Sie ist für Tell gebaut, aus Holz und Stein: Die Naturbühne in Matten bei Interlaken. Mit Rütliwiese, hohler Gasse und dem Tell-Haus. 1912 gab es hier die erste Aufführung nach dem Text von Friedrich Schiller. Mit Unterbrüchen während der Kriegszeiten war das bis 2023 der Fall.
Jetzt ist hier alles anders. Statt der Tell-Geschichte gibt’s diesen Sommer die Saga des englischen Gesetzlosen und Sozialhelden Robin Hood. Statt der Armbrust wird der Bogen gespannt.
Luca Michel ist einer der beiden Hood-Darsteller. Seiner Meinung nach bringt das Stück neuen Wind in die Tellarena. «Gäste und auch die Schauspielerinnen und Schauspieler sind doch viel motivierter, wenn es etwas Neues zu sehen gibt», sagt er gegenüber der «Rundschau». Etwas Neues, was nicht einfach Apfelschuss und Gesslertod sei.
Robin Hood passe in die legendäre Tellkulisse im Rugenwald, heisst es beim Präsidenten des Vereins Tellspiele Interlaken, Pascal Minder: «Die beiden Geschichten spielen sich ungefähr zur selben Zeit ab, und beide Hauptfiguren sind Freiheitshelden.»
Von Geldsorgen und Kritikern
Doch die Idee, einen neuen Stoff auf die Bühne zu bringen, ist auch aus der Not geboren. In den letzten 12 Jahren sind die Zuschauerzahlen bei den Tellspielen stark gesunken. Mit Robin Hood soll es in Interlaken jetzt wieder aufwärts gehen. «Letztlich geht es darum, mit dem neuen Stück die alten Tellspiele zu retten», sagt Minder. Es sei Teil der Überlebensstrategie.
«Die Spiele sind heruntergehundet», schimpft Walter Balmer. Der Bauer aus Wilderswil hat 19 Jahre lang den Gessler gespielt. In den letzten Jahren hat er mit seinen Kühen noch den Alpabzug innerhalb des Tell-Schauspiels gemacht. Über 10 Tiere, die geschmückt und geputzt durch die Arena stolzierten. Nun hat er sich aus Protest ganz zurückgezogen. «Da will man immer alles modernisieren. Das kommt nicht gut.» Das Tellspiel nach Schillers Vorlage hätte auch heute Bedeutung, «weil da ist ja die Schweizer Geschichte dabei.»
Die taumelnden Tellspiele lösen in Interlaken und Umgebung Emotionen aus. Viele Spielerinnen und Spieler sind seit Jahren dabei. Eine Familiengeschichte. Auch René Schneider aus Matten hat während Jahrzehnten mitgemacht. «Ich hänge sehr am Tellspiel, so viele Abende und Stunden habe ich auf dem Platz hier erlebt.» Seine Analyse: Der Niedergang habe mit dem Dialektspiel begonnen, also 2016, als Schillers Text in Interlaken erstmals auf Mundart vorgetragen wurde. «Das hält deutsche, welsche oder holländische Touristen ab.»
Mythos Wilhelm Tell
Und bei Schweizerinnen und Schweizern, interessiert der Gründungsmythos schlicht nicht mehr? André Holenstein ist emeritierter Professor für ältere Schweizer Geschichte. Er sagt: «Wir leben in Zeiten, wo Tell als Identifikationsfigur nicht mehr so gefragt ist.» Der Kampf für die Freiheit sei nicht mehr so virulent.
Und auch in den Schulen seien Tell und Rütli weniger präsent: «Geschichtsunterricht ist nicht mehr vorwiegend ein Unterricht in Nationalgeschichte. Man redet unterdessen stark über europäische und globale Geschichte.»
Noch bis weit in den Kalten Krieg sei das anders gewesen. Die Idee der wehrhaften Schweiz – und damit auch Tell als Figur – sei präsent gewesen. Historiker Holenstein: «Wer weiss, vielleicht kommt sie jetzt wieder zurück unter den neuen Umständen.»
Tell, er könnte irgendwann wieder wichtiger werden. Für den Moment hat aber Robin Hood die Bühne übernommen – und soll die Tellspiele vor dem Untergang retten.