«Als Jugendliche auf dem Land war mein grösstes Ziel, ein Auto zu besitzen», sagt Berns erste Stadtpräsidentin. 833 Jahre nach der Gründung der Zähringerstadt ist Marieke Kruit die erste Stadtpräsidentin. Nach den Wahlen wurde Bern in der «NZZ am Sonntag» zur «linksten» Stadt der Schweiz gekürt – wie will Kruit den Graben zwischen Stadt und Land überwinden?
SRF News: Bern soll die «linkste» Stadt der Schweiz sein, Kopf an Kopf mit Lausanne. Ist dies für Sie ein Lob oder macht es Ihnen mehr Angst?
Marieke Kruit: Es ist ein Lob, aber wir müssen uns bewusst sein, es wählen nicht alle rot-grün. Wir müssen das Einende und nicht das Trennende suchen. Aber wenn ich sehe, wie hoch die Lebensqualität in der Stadt Bern ist, dann haben wir viel richtig gemacht.
In Bern hat die Rot-Grüne Mehrheit 61 Prozent der Sitze im Parlament, im Gemeinderat, der Exekutive, ist das Verhältnis 1:4. Eine FDP-Politikerin schrieb auf X: «Wir werden zu Zaungästen degradiert.» Verstehen Sie den Frust?
Wir müssen im Gemeinderat eine Politik für die ganze Bevölkerung machen.
Ich verstehe den Frust, es hätte ja auch ein 3:2 geben können. Wir müssen im Gemeinderat eine Politik für die ganze Bevölkerung machen. Aus dem Nähkästchen geplaudert: In den letzten vier Jahre waren wir oft alle einer Meinung im Gemeinderat. Als Beispiel, den Gewerbeverkehr müssen wir gleich fördern wie den nachhaltigen Verkehr. Der Sanitär muss innert nützlicher Frist an einen Ort gelangen können. Solche Anliegen müssen wir noch vermehrt aufnehmen.
Sie riskieren, bei ihrer Wählerschaft auf Kritik zu stossen?
Das machte ich schon in den letzten vier Jahren.
Sie sind im Berner Bergdorf Turbach bei Gstaad aufgewachsen, im Hotel ihrer Eltern, die aus den Niederlanden stammen. Sie kennen den Stadt-Land-Graben, der immer grösser wird, persönlich?
Es gibt unterschiedliche Lebensweisen, wenn man auf dem Land lebt oder in der Stadt. Mit 18 Jahren war mein grösstes Ziel, ein Auto zu besitzen. So konnte ich die Freiheit geniessen, so kam ich aus dem Tal heraus. Jetzt in der Stadt Bern brauche ich kein Auto mehr, da wir einen gut ausgebauten ÖV haben. Es braucht nicht dieselben Rezepte auf dem Land oder in der Stadt. Es ist wichtig, dass wir diesen Perspektivenwechsel machen. Damit wir nicht sagen: Wir in der Stadt wissen alles besser.
Es braucht nicht dieselben Rezepte auf dem Land oder in der Stadt.
Wenn wir das Beispiel Tempo 30 nehmen: Wir haben diese Limite in der Stadt fast überall, da es auch eine gute Lärmschutzmassnahme ist – und jetzt wird es aber auch in den Regionen an verschiedenen Orten eingeführt.
Die Städte beklagen, dass sie im nationalen Parlament zu wenig gehört werden. Ausser Beat Jans kommt kein Bundesrat aus der Stadt. Ist dies auch für Sie ein Problem?
Ja, teilweise schon. Ich habe mich zum Beispiel sehr geärgert, dass weiterhin generell Tempo 50 auf Hauptstrassen gelten soll, und bei Reduktionen auf Tempo 30 eine Ausnahme bewilligt werden muss. Gerade in den Städten und Gemeinden kann Tempo 30 eine gute Lärmschutz- oder Sicherheitsmassnahme sein.
Wie könnten Sie Ihre Stimme einbringen? Braucht es mehr Politikerinnen und Politiker, die national und auf Städteebene politisieren?
Wir hatten mit Reto Nause jemanden mit einem solchen Doppelmandat. Das ist sehr aufwändig für das ganze Gremium. Während der Session muss man alle Sitzungen rundum organisieren. Auch ist das Pensum über längere Sicht nicht leistbar. Wir müssen uns stark vernetzen und ein gutes Lobbying machen. Das ist besser, als an beiden Orten zu politisieren, aber nirgends richtig.
Das Gespräch führte Karoline Arn.