Wer kennt sie nicht, die Brunnenfigur auf dem Kornhausplatz in Bern, die ein nacktes Kind verschlingt? Der Kindlifresserbrunnen – oder «Chindlifrässerbrunne», wie er auf Berndeutsch heisst – gehört zu Bern wie der Bärengraben. Doch die wenigsten wissen, was es mit dieser Figur auf sich hat.
Nun: Deutungen gibt es eine Menge. Manche sehen in der mittelalterlichen Statue eine Figur aus der griechischen Mythologie, andere eine Fasnachtsfigur oder einen Kinderschreck. Seit dem 19. Jahrhundert kursiert auch eine antisemitische Auslegung: Der Kindlifresser als Jude, der Christenkinder verzehrt.
Mehr als ein Kinderschreck
Trotz der Vielfalt war auf der dazugehörigen Infotafel nur vom Kinderfresser als Kinderschreck die Rede. Doch das hat die Stadt Bern jetzt geändert. Eine neue Tafel erwähnt die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten, darunter auch die antisemitische Auslegung.
Damit ist die Stadt Bern in guter Gesellschaft – in den letzten Jahren wurden in der Schweiz mehrere Denkmäler mit einer Tafel versehen, die einen Kontext liefern.
Hintergrund ist unter anderem die Black-Lives-Matter-Bewegung, die 2020 auch die Diskussion um Denkmäler und andere Zeugen kolonialistischer und rassistischer Geschichte neu entflammte.
Antisemitismus hält sich hartnäckig
Ob der Kindlifresserbrunnen in Bern tatsächlich einen antisemitischen Hintergrund hat, ist ungewiss. Wichtig sei jedoch, dass diese Deutung nicht verschwiegen werde, erklärt René Bloch, Judaistik-Professor an der Universität Bern. «Der Vorwurf des jüdischen Kindermordes ist sehr alt, hält sich aber bis heute. Darum ist es wichtig, auf die antisemitische Deutung zu verweisen.»
Hinzu komme, dass im Zusammenhang mit dem Kindlifresserbrunnen auch die These von Saturn kursiere: Saturn ist ein Gott aus der römischen Mythologie, der angeblich seine Kinder auffrisst. «Wir wissen, dass Saturn ab und zu mit Juden in Verbindung gebracht wurde», sagt Bloch und nennt als Beispiel den Holzschnitt eines Nürnberger Künstlers aus dem Jahr 1492, der einen kinderfressenden Saturn mit einem jüdischen Abzeichen zeigt.
Auch Franziska Burkhardt, Leiterin von Kultur Stadt Bern, findet es wichtig, dass die ganze Palette der Interpretationen aufgezeigt wird. «In unserer polarisierten Welt ist es wichtig, dass man die verschiedenen Ansichten offenlegt und diese diskutiert.»
Noch keine gehässigen Reaktionen
Die Stadt Bern hat schon länger über eine neue Beschriftung diskutiert. Dass es erst jetzt dazu gekommen ist, schreibt Burkhardt den langsamen Mühlen der Politik zu. «Man muss sich mit vielen verschiedenen Interessensgruppen absprechen.»
In unserer polarisierten Welt ist es wichtig, dass man die verschiedenen Ansichten offenlegt und diese diskutiert.»
Aber nun, da es so weit ist, zeigt sich Burkhardt zuversichtlich, dass der Austausch über die unterschiedlichen Deutungen konstruktiv wird. Denn: Bis jetzt habe sie auf die neue Beschriftung keine gehässigen Reaktionen erhalten.