Darum geht es: Eine im renommierten Wissenschaftsmagazin «The Lancet» veröffentlichte Studie über die Lebenserwartung in Europa kommt zum Ergebnis, dass die Lebenserwartung kaum noch steigt. Während sie zwischen 1990 und 2011 in den untersuchten 16 europäischen Ländern pro Jahr durchschnittlich um 0.23 Jahre stieg, waren es zwischen 2011 und 2019 jährlich nur noch 0.15 Jahre. Zwischen 2019 und 2021 verkürzte sich die Lebenserwartung gar leicht – wegen der Todesfälle durch die Coronapandemie.
Das sind die Gründe: Die Studie nennt als Ursache für die Verlangsamung des Anstiegs der Lebenserwartung ab 2011 vor allem Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Diese Erkrankungen sind demnach vor allem eine Folge von schlechter Ernährung, Rauchen, Alkohol und wenig Bewegung. Für Heike Bischoff-Ferrari, Inhaberin des Lehrstuhls für Geriatrie und Altersforschung an der Universität Zürich, ist das nicht überraschend: «Wir haben hier ein Risikoprofil, das enorm gut belegt ist in der Forschung.» Die Autoren der Studie würden aber zeigen, dass diese Risikofaktoren trotz verbesserten Medikamenten zur Kontrolle des Blutdrucks und des Cholesterinspiegels weiterhin hochrelevant sind. «Diese Lebensstilfaktoren sind eindeutig die Treiber bezogen auf die Veränderung in der Lebenserwartung.»
Das ist die Situation in der Schweiz: Gegenwärtig ist die Lebenserwartung bei Geburt in der Schweiz gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) eine der höchsten der Welt. Seit 1900 hat sie sich von 46.2 auf 82.2 Jahre für die Männer und von 48.9 auf 85.8 Jahre für die Frauen im Jahr 2023 fast verdoppelt. Aber auch in der Schweiz verlangsamte sich der Anstieg in den letzten Jahren. Bei guter Gesundheit leben die Menschen hierzulande durchschnittlich bis rund 71 Jahre. Gemäss der Altersforscherin Bischoff-Ferrari gibt es aber für die Schweiz keine Studie, welche die Lebenserwartung mit den chronischen Erkrankungen und Lebensstilfaktoren verbindet: «Insgesamt wissen wir aber, dass die Schweiz einen hohen Anteil älterer Menschen hat, die sehr gesund sind.»
Das kann unternommen werden: Trotz eines heutzutage deutlich ausgeprägteren Bewusstseins für einen gesunden Lebensstil und eines deutlichen Rückgangs des Tabak- und Alkoholkonsums sinkt also das Wachstum der Lebenserwartung. Für Bischoff-Ferrari heisst das aber nicht, dass das Maximum an Lebensjahren bald erreicht sein könnte. Im Gegenteil: «Wir sehen noch ein riesiges Potenzial in der Unterstützung von Menschen, gesunde Lebensstilfaktoren kombiniert in ihr Leben zu integrieren.» Das Wissen sei zwar vorhanden, aber es würde noch an Um- und Übersetzung in die Praxis mangeln. «Deshalb zieht die moderne Altersforschung bezüglich Verlängerung der gesunden Lebenserwartung darauf ab, Menschen zu unterstützen, Veränderungen wie mehr Bewegung und weniger Alkohol nachhaltig in ihr Leben zu integrieren.»
Das ist das Ziel: Gemäss Bischoff-Ferrari geht es in der Forschung jetzt vor allem darum, die sogenannt gesunde Lebenserwartung zu steigern. «Die Menschen wünschen sich ja nicht einfach uralt zu werden, egal wie.» Und diese gesunde Lebenserwartung hinke der totalen Lebenserwartung rund 20 Prozent hinterher. «Wenn man die auf einer Populationsebene verbessern möchte, dann muss man den Zugang aller Menschen zu diesen Massnahmen ermöglichen.»