Die Ergänzungsleistungen sichern das Existenzminimum, wenn die Rente nicht ausreicht. Sie sind ein verfassungsmässiger Anspruch, keine Fürsorge oder Sozialhilfe. Dennoch holt der Staat künftig Ergänzungsleistungen von den Erben zurück. Damit werde zum ersten Mal eine rechtmässig bezogene Sozialversicherungsleistung auf nationaler Ebene rückerstattungspflichtig, sagen verschiedene Rechtsprofessoren gegenüber «10vor10».
Änderung im März beschlossen
Weitgehend von der Öffentlichkeit unbemerkt hat das Parlament die Änderung im März beschlossen. Im neuen Ergänzungsleistungsgesetz, in Artikel 16 zur «Rückerstattung rechtmässig bezogener Leistungen» steht, dass diese «nach dem Tod der Bezügerin oder des Bezügers aus dem Nachlass zurückzuerstatten» sind. Und zwar von dem Teil des Erbes, der 40'000 Franken übersteigt. Bei Ehepaaren greift die Rückerstattungspflicht erst, wenn beide Ehepartner verstorben sind.
Eine teilweise Abschaffung des gesetzlichen Erbrechts.
«Der Effekt der Rückerstattungspflicht besteht letztlich in einer ‹Enteignung› beziehungsweise einer teilweisen Abschaffung des gesetzlichen Erbrechts», erklärt Hardy Landolt, Titularprofessor für Sozialversicherungsrecht an der Universität St. Gallen.
Am meisten betreffen werde dies «die Mittelklasse und die untere Mittelklasse», sagt Anne-Sylvie Dupont, Professorin für Sozialversicherungsrecht an den Universitäten Neuenburg und Genf. Und sie ergänzt: «Oft wird es nicht mehr möglich sein, das Haus oder die Eigentumswohnung an die Nachkommen weiterzugeben».
Die Neuerung wiege insbesondere wegen des «stillen Systemwechsels» zur Rückzahlbarkeit einer Sozialversicherung schwer, weil man auf Ergänzungsleistungen – im Gegensatz etwa zur Sozialhilfe – einen unbedingten Anspruch habe, sagt Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich. «Nun werden plötzlich Leistungen, die eigentlich die erste Säule ergänzen würden, und die ausdrücklich dafür vorgesehen waren, dass alle auf das Existenzminimum kommen, eigentlich von hinten her ausgehöhlt», findet Gächter. «Das ist wirklich ein Novum.»
5174 Betroffene pro Jahr
Das Parlament will so jährlich 150 Millionen Franken zurückholen. Ab 2030 wird die Rückerstattung laut dem Bundesamt für Sozialversicherungen 5174 Verstorbene pro Jahr betreffen, fünf Prozent davon mit Wohneigentum. Das geschuldete Geld kann in die Zehntausende – oder gar Hunderttausende gehen. Vor allem, wenn der Verstorbene Pflegeleistungen benötigt hatte.
Die Kosten für die Ergänzungsleistungen haben sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt, auf 5 Milliarden Franken. Auffällig: In der bundesrätlichen Vorlage zur Reform war von Rückerstattung nicht die Rede. Weshalb es auch keine Vernehmlassung darüber gab.
Es gibt kein Menschenrecht auf Erbschaft.
Ins Parlament eingebracht hat die Idee Nationalrätin Ruth Humbel von der CVP. Humbel sagt gegenüber «10vor10», wer Vermögen habe, sei nicht in seiner Existenz gefährdet. Und: «Es gibt kein Menschenrecht auf Erbschaft. Es gibt auch insofern keinen Verfassungsschutz für Erben, dass die Sozialversicherungen, die steuerfinanziert sind, Erben subventionieren sollten. Alle bezahlen mit ihren Steuergeldern Ergänzungsleistungen – und Steuergelder sollen keine Erben subventionieren.»
Linke hat sich enthalten
Auch der Präsident des Hauseigentümerverbands und SVP-Nationalrat Hans Egloff unterstützte die Rückerstattungspflicht. «Mit dieser Lösung können diese Menschen immerhin in ihrem Eigenheim verbleiben, bis sie sterben. Sie verlieren es nicht schon zu Lebzeiten», so Egloff.
Angenommen haben die Ergänzungsleistungs-Reform in der Schlussabstimmung sämtliche bürgerlichen Parteien. Die SP und die Grünen haben sich enthalten.