Rund 1 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer hat als Kind oder Jugendlicher in einem Heim oder einer Pflegefamilie gelebt, schätzt Marc Schmid, leitender Psychologe an der Kinder- und Jugendklinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel. Die eigene Familie zu verlassen, ist für viele ein schwieriges bis traumatisches Erlebnis.
Rund 20 Prozent der ehemaligen Heimkinder machen uns Sorgen.
Die neue Studie « Jugendhilfeverläufe: Aus Erfahrung lernen (JAEL) » erforsche, weshalb rund 20 Prozent der ehemaligen Heimkinder als Erwachsene den Boden unter den Füssen verlieren, sagt Co-Studienautor Marc Schmid. Aber auch, unter welchen Bedingungen ein erfolgreicher Schritt ins Leben gelinge.
Denn dieser Schritt ins Erwachsenenleben birgt viele Stolpersteine für Kinder und Jugendliche mit Heimhintergrund. Mit der Volljährigkeit sind sie quasi von einem Tag auf den anderen auf sich allein gestellt. Sie werden zu «Care Leavern».
Stell dir vor, du ziehst aus und plötzlich darfst du deine Eltern nicht mehr um Rat fragen.
Dieser Herausforderung musste sich auch Gael Plo stellen. Obwohl der Schritt für den Basler nicht einfach gewesen sei, meisterte er die Situation. «Ich vergleiche es mit dem Auszug aus einer normalen Familie. Stell dir vor, du ziehst aus und plötzlich darfst du deine Eltern nicht mehr um Rat fragen. Selbst wenn es dir schlecht geht, dürfen sie dich nicht mehr unterstützen», sagte Plo vor knapp drei Jahren gegenüber SRF.
Eine paradoxe Situation: Ausgerechnet Jugendliche, die Probleme in ihrer Familie haben und deshalb in einem Heim unterkommen, müssen ihr Leben bereits mit 18 Jahren selbständig führen.
Entscheidend sind stabile Beziehungen zu Betreuungspersonen
Trotzdem seien es nur rund 20 Prozent der ehemaligen Heimkinder, die gröbere Probleme haben, betont Co-Studienautor Marc Schmid. Ihre Probleme sind vielfältig und reichen von Drogenmissbrauch über psychische Erkrankungen bis hin zu Schwierigkeiten im Bereich Finanzen und Arbeit.
Entscheidend seien stabile Beziehungen zu den Betreuungspersonen, stellt die Studie fest. «Wichtig ist der Kontakt mit authentischen Personen, die den Kindern und Jugendlichen etwas zutrauen und sich emotional für sie engagieren», so Schmid.
Was naheliegend klingt, gelinge im Alltag leider oft nur ungenügend. Jugendliche, die Probleme machen, müssten häufig die therapeutische Unterstützung wechseln oder würden sogar von einem Heim zum anderen geschickt. Damit werden Beziehungen immer wieder abgebrochen.
Schmid spricht in diesem Zusammenhang von einem Teufelskreis. «Mehr Belastung erhöht die Wahrscheinlichkeit von Abbrüchen und das führt zu weiteren Problemen.»
Ein Grund dafür seien knappe Mittel in den Heimen; oft fehlt die Zeit. Schmid kritisiert auch die Behörden, welche die Jugendlichen herumschieben würden. Dabei fehle die Zeit, um sich abzusprechen. «Das hat mich am meisten erschreckt. Nach einem Wechsel müssen die neuen Betreuungspersonen oft wieder bei null anfangen.»
So kommt es, dass Vertrauensverhältnisse zerbrechen, wenn Jugendliche von einem Heim in ein anderes wechseln. «Es braucht auch Hilfe zwischen den Hilfen», fordert Schmid.
Ich glaube, dass die Zahl der ehemaligen Heimkinder mit Problemen halbiert werden könnte.
Schmid ist überzeugt, dass Verbesserungen möglich sind. «Ich glaube, dass die Zahl der ehemaligen Heimkinder, die später im Leben grössere Probleme haben, halbiert werden könnte.»
Und Schmid glaubt auch, dass dies nur kurzfristig zu höheren Kosten führen würde. Denn: Mit präventiver Sozialarbeit bei den Heimkindern könnten viele chronische Probleme und damit auch Sozialkosten verhindert werden.