Erstmals seit 1964 haben sich in der Schweiz 2020 weniger als 1000 Menschen das Leben genommen – trotz der Belastungen durch die Covid-19-Pandemie. Das teilte das Bundesamt für Statistik (BFS) in einer Detailauswertung der Todesursachen 2020 mit. Bei jungen Frauen hingegen ist eine leichte Zunahme zu erkennen. Wie sind die Zahlen einzuschätzen? Experte Philipp Sterzer ordnet ein.
SRF News: Warum nehmen sich Menschen das Leben?
Philipp Stelzer: Die allermeisten Suizide begehen Menschen im Rahmen von psychischen Erkrankungen. Begünstigt wird das Ganze vermutlich auch durch die Lebensumstände, aber hier sind die Zusammenhänge in den Studien sehr schwach. Arbeitslosigkeit oder eine schwere Krankheit begünstigen Suizid, der Zusammenhang ist aber nicht so eindeutig wie man vermuten würde.
Die Suizidstatistik 2020 zeigt erneut sinkende Zahlen. Seit 1985 zeigt die Kurve insgesamt nach unten. Warum?
Es ist sehr erfreulich, dass die Suizidrate seit 20 bis 30 Jahren konstant am Sinken ist. Auch im Jahr 2020 sind die Zahlen etwas überraschend zurückgegangen. Überraschend deswegen, weil viele prognostiziert hatten, dass die Pandemie nicht nur zu einer höheren psychischen Belastung, sondern auch zu einer höheren Suizidrate führen wird. Verschiedene Studien belegen, dass die psychische Belastung zugenommen hat, Depressivität oder Angstzustände zum Beispiel. Dies hat sich aber offenbar nicht auf die Suizidrate niedergeschlagen.
Die psychische Belastung bei jungen Erwachsenen hat gemäss Daten deutlicher zugenommen als bei Erwachsenen.
Was macht die Gesellschaft richtig?
Es ist sehr schwierig, dies auf einen Punkt zu bringen. Möglicherweise gibt es gerade in Krisenzeiten einen sogenannten «Pull it together»-Faktor, also dass wir näher zusammenrücken und einander unterstützen. Die sinkende Suizidrate könnte aber auch mit der verbesserten Prävention zusammenhängen, mit verbesserten und niederschwelligen Angeboten.
2020 Corona, 2021 Corona, 2022 Corona und der Ukraine-Krieg: Eine Krise jagt die nächste. Was bedeutet das für die Menschen und ihre psychische Verfassung?
Eine Möglichkeit für die eher tiefen Suizidzahlen für 2020 könnte sein, dass Suizide mit einer gewissen Verzögerung auftreten. Dies wäre eine eher pessimistische Auslegung. Es ist wahnsinnig schwer, dies vorauszusagen. Mit dem Ukraine-Krieg sind nun weitere Faktoren dazugekommen, die Weltlage präsentiert sich unsicher. Aber daraus abzuleiten, dass die Weltsituation unmittelbar einen Einfluss auf die Suizidrate hat, ist äusserst schwierig.
Das Bewusstsein in der Bevölkerung muss geschärft werden und niederschwellige Angebote müssen vorhanden sein.
Bei den Jungen nimmt die Suizidrate teilweise zu: Bei jungen Männern bleibt sie gleich, bei jungen Frauen hat sie zugenommen. Woran könnte das liegen?
Die Zahlen sind mit Vorsicht zu geniessen, denn die absolute Anzahl der Suizide bei jungen Erwachsenen ist eher gering im Vergleich zu älteren Personen. Somit ist es schwer zu sagen, ob es sich um zufällige Schwankungen handelt oder ob tatsächlich eine Zunahme stattgefunden hat. Die psychische Belastung bei jungen Erwachsenen hat aber gemäss Daten deutlicher zugenommen als bei Erwachsenen.
Man muss also noch nicht beunruhigt sein?
Man sollte auf jeden Fall wachsam sein. Wir sollten alles dafür tun, die Verfügbarkeit von Hilfsangeboten zu erhöhen. Das Bewusstsein in der Bevölkerung muss geschärft werden und niederschwellige Angebote müssen vorhanden sein.
Das Gespräch führte Senta Keller.