Ist die Fluh ob Mitholz im Berner Oberland ein Pulverfass oder nicht? Könnte es jederzeit eine Explosion geben? Oder ist alles gar nicht so schlimm? Wäre die geplante Räumung am Ende gar nicht nötig?
Vor zwei Wochen gelangte ein Bericht von Munitionsspezialisten der Schweizer Armee an die Öffentlichkeit. Und dieser stellt die Risikoanalysen des Bundes infrage, einmal mehr.
Das Bundesamt für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) spricht von bis zu zehn Tonnen Sprengstoff, die gleichzeitig explodieren könnten. Die Kampfmittelräumer, das Kommando Kamir des VBS, kommt in seinen Berichten aber zu einem anderen Schluss: Maximal fünf Kilo könnten gleichzeitig explodieren. Sie empfehlen deshalb, die Risikobeurteilung anzupassen.
Altlasten nach der Explosion
Rückblick: Im Winter 1947 explodierte ein Teil eines ehemaligen Munitionslagers der Schweizer Armee im Berg ob Mitholz. Neun Menschen kamen ums Leben, viele werden verletzt, noch mehr werden obdachlos.
Die Katastrophe von Mitholz 1947
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Bild 1 von 10Legende: Nach der Schreckensnacht in Mitholz zeugen Trümmer und beschädigte Häuser von der Katastrophe. Es ist die Nacht vom 19. auf den 20. Dezember 1947, als sich in der Gemeinde Kandergrund im Berner Oberland eine der grössten Explosionskatastrophen der Schweiz ereignet. Keystone
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Bild 2 von 10Legende: In einem Munitionslager der Schweizer Armee kommt es zu einer Reihe schwerer Explosionen. Rund 4000 von 7000 Tonnen eingelagerter Munition explodieren oder verbrennen. Im Bild: Die zugemauerten Stolleneingänge des ehemaligen Munitionslagers. VBS
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Bild 3 von 10Legende: Einer der Stollen nach der Explosion. VBS
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Bild 4 von 10Legende: Die Felswand, in der sich das Munitionsdepot befindet, stürzt ein, wobei sich etwa 250'000 Kubikmeter Gestein lösen. VBS
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Bild 5 von 10Legende: Neun Menschen sterben, mehrere werden verletzt. 200 Personen sind obdachlos. Keystone
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Bild 6 von 10Legende: Die Explosionen sind so gewaltig, dass 40 Häuser zerstört oder beschädigt werden. Der Sachschaden wird auf 100 Millionen Franken geschätzt, was heute 490 Millionen Franken entspricht. VBS
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Bild 7 von 10Legende: Im Kirchlein Kandergrund findet die Trauerfeier für die Opfer der Explosionskatastrophe statt. Keystone
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Bild 8 von 10Legende: Die Katastrophe löst eine Solidaritätswelle in der Bevölkerung aus. Im Schulzimmer in Kandergrund türmen sich bald Spenden und Pakete aller Art (Foto vom Januar 1948). Keystone
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Bild 9 von 10Legende: Aufräumen nach der Katastrophe: Bahnarbeiter reparieren die Gleise. Die Bahnstrecke ist tagelang unterbrochen und die Station Blausee-Mitholz der Lötschbergbahn zerstört. Keystone
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Bild 10 von 10Legende: Wohin mit den Munitionsrückständen? Um den Gefahren durch überalterte Munitionsbestände zu begegnen, beschloss der Bundesrat im März 1948, 2500 Tonnen Artilleriemunition im Thuner-, Brienzer- und Vierwaldstättersee zu versenken. Zusätzlich wurden rund 1500 Tonnen von Rückständen aus Mitholz im Thunersee versenkt. VBS
Jahrelang hiess es, von der Fluh gehe keine Gefahr mehr aus. Doch vor sieben Jahren befand ein neues Gutachten, die Munitionsreste im Berg könnten noch explodieren.
Der Bund beschloss eine vollständige Räumung. Das Parlament hat nach langen Diskussionen einen Kredit von 2.59 Milliarden Franken dafür bewilligt. Dazu gehören aufwändige Schutzmassnahmen für Dorf, Strasse und Schiene – und hierfür muss ein Teil der Bevölkerung wegziehen.
«Schlecht für die Gesundheit»
Zwischenzeitlich wurde der Sicherheitsperimeter korrigiert. Einige Häuser befinden sich heute ausserhalb der Gefahrenzone. Auch das Haus des Gemeindeschreibers Martin Trachsel. Und doch ist er bereits weggezogen. Zu weit war die Familie schon mit einem neuen Hausprojekt.
Er bedauere, dass die Bevölkerung einmal mehr durch neue Fragen zur Räumung aufgewühlt werde. «Es tut der Gesundheit nicht gut, wenn man immer wieder diese Gedanken hat, ob das jetzt alles richtig ist, was wir hier tun», sagt er.
Experten sind sich uneinig
Franz Bär, bis zu seiner Pensionierung stellvertretender Kommandant des Kommandos Kamir, ist anderer Meinung.
Die Fluh ist kein Pulverfass.
Der grösste Teil der Munition sei im Winter 1947 explodiert, also unschädlich geworden, sagt er. «Die Fluh ist kein Pulverfass. Es hat noch Explosivstoffe im Berg, die wir ziemlich gefahrlos bergen können. Es ist eine Resträumung.» Das VBS vertraue den Kampfmittelräumern schlicht nicht.
Man habe die Berichte genau studiert und nehme sie ernst, kontert Bruno Locher, Chef Raum und Umwelt beim VBS.
Eine Explosion mit einer Tonne Sprengstoff gilt als wahrscheinlich.
Die Risikoanalyse habe jedoch, basierend auf der Einschätzung mehrerer Fachgruppen, andere Resultate ergeben: «Eine Explosion mit einer Tonne Sprengstoff gilt als wahrscheinlich. Natürlich passen wir unsere Analysen nach neusten Erkenntnissen laufend an.» Das VBS wolle und müsse aber jedes Restrisiko ausschliessen.
«Dorf zerfällt»
In Mitholz sind die Meinungen geteilt: Die einen tragen die Entscheidungen des VBS mit, die andere nicht.
Dorfbewohnerin Monika Küenzi etwa sagt: «Wir haben hier schon lange das Gefühl, dass man sich zu schnell für ein zu grosses, unnötiges Projekt entschieden hat. Das wird jetzt auf den Schultern der Bevölkerung durchgezogen.» Das Dorf zerfalle immer mehr, weil so viele Leute wegziehen würden.