Wer mit dem Zug von Olten, Luzern oder Basel in den Zürcher Hauptbahnhof einfährt, sieht die Hochhäuser der Europaallee auf den ersten Blick: Wo früher einst mehrheitlich Lagerhallen standen, erheben sich heute glänzende Fensterfronten entlang der Gleise.
Nicht sichtbar hingegen sind bei der Zugeinfahrt Widerstand und Proteste, welche die Europaallee seit Baubeginn vor elf Jahren begleiten wie kaum ein anderes Bauprojekt der Stadt Zürich. Chaoten rebellierten gar in gewaltsamen Demonstrationen gegen den Stadtteil, schlugen Scheiben ein. Das war in einer Dezembernacht 2014. Jetzt, an einem regnerischen Morgen im November 2020 ist die Stimmung friedlich.
Nur wenige Menschen schlendern an diesem Tag durch den Stadtteil mit seinen Wohnungen, Büros, Restaurants und Läden. Das Quartier erscheint ruhig. «Steril», nennt es Niklaus Scherr.
Der frühere Stadtparlamentarier der Links-Partei Alternative Liste kritisiert, grosse Firmen wie Google mit seinem Schweizer Hauptsitz, die Kantonalbank oder die UBS brächten nur wenig Leben in die Europaallee. 8000 Arbeitsplätze gibt es im Stadtteil.
Für Monokultur sorgen laut Scherr auch teure Wohnungsmieten, die normal verdienende Zürcherinnen und Zürcher von der Europaallee abhielten. «Wohnungen von 3500, 4500 Franken an aufwärts bis zu 6000 Franken sind ein Witz», so Scherr.
«Zu einer guten Durchmischung gehört auch das Leben von Leuten, die in der Europaallee wohnen und nicht nur von solchen, die hier in einem Hochpreisghetto eine Abstiege haben». Scherr bezieht sich dabei auch auf eine luxuriöse Altersresidenz in der Europaalle. Weil die teuren Wohnungen mit Butler-Service zu wenig gefragt waren, musste die Residenz kürzlich schliessen.
Hat die Bauherrin SBB ein lebloses Luxusquartier mit zu teuren Wohnungen geschaffen? Andreas Steiger, der das Projekt Europaalle bei der SBB seit Beginn leitet, widerspricht. Die Mietpreise seien zwar nicht günstig im Sinne von gemeinnützigem Wohnungsbau. «Doch es gibt durchaus Wohnungen, die absolut erschwinglich sind».
Laut Steiger zieht die Europaallee internationale Nomaden an. Gäste, die nach einigen Jahren in eine andere Stadt weiterziehen. Auch diese suchten den Lokalbezug, so der Projektverantwortliche. Oder in anderen Worten: Sie bringen Leben ins Quartier.
Trotz Kritik zeigt sich Steiger überzeugt, dass sich die Zürcherinnen und Zürcher der Europaallee langsam annähern. Viele hätten ihre anfängliche Skepsis bereits abgelegt, sagt er beim Spaziergang über den schwarzen Teer. Es brauche jetzt noch etwas Zeit. «In zwanzig Jahren ist die Europaallee ein ganz normales Stück Stadt».
Normal? Architektur-Experte Daniel Kurz bezeichnet die Europaallee schon heute als «spezielles Quartier». Zwar seien die Gebäude nicht sonderlich spannend gebaut, so der Chefredaktor der Architektur-Zeitschrift «Werk, Bauen + Wohnen». Weil sich die Gebäude jedoch gruppenweise zusammen drängten, würden sie «spannende Räume zwischen sich entstehen lassen».
Den Angebotsmix von der Velowerkstatt zum Gewürzladen bis hin zum Snowboardgeschäft findet Kunz interessant. Allerdings wirke die Durchmischung etwas erzwungen: «Die kleinen Geschäfte wurden kuratiert wie eine Ausstellung im Museum». Was nicht heisse, dass dieser Ansatz falsch sei. Vieles in der Europaallee ist also eine Frage der Perspektive – nicht nur, wie hoch die Gebäude erscheinen.