Seit Jahrzehnten galt in der Schweizer Wirtschaftspolitik die fast unverrückbare Regel, dass die Schweiz im Gegensatz zu vielen anderen Ländern keine Industriepolitik macht. Konkret heisst das: kriselnde Betriebe und Branchen erhalten keine staatliche Unterstützung. Unternehmen, die nicht überlebensfähig sind, verschwinden wieder.
Genau darum sei die Schweizer Industrie so fit, wurde jeweils argumentiert. Weil die Betriebe wüssten, dass sie auf keine staatliche Hilfe zählen können, müssten sie sich laufend dem Markt anpassen.
Drei Werke von strategischer Bedeutung
Doch heute argumentierte der bürgerlich dominierte Nationalrat ganz anders. Die letzten beiden Stahlwerke der Schweiz und ein Aluminiumwerk im Wallis seien von strategischer Bedeutung. Die Werke seien zudem unverzichtbar für die Kreislaufwirtschaft, weil sie Stahl recyceln und so CO₂ vermindern würden.
Eine Koalition von linken Parlamentsmitgliedern, der Mitte und «Abweichler» aus FDP und SVP machten es möglich: Die Kriterien im Stromversorgungsgesetz wurden genau so definiert, dass die zwei Stahlwerke in Schwierigkeiten und ein Aluminiumwerk nun temporär bei den sehr teuren Netzkosten entlastet werden sollen.
Perfekte Kampagne
Voraus ging eine einmalige Welle der Solidarität für das Stahlwerk Gerlafingen. Man könnte es auch als perfekte Kampagne bezeichnen. Nach der Ankündigung einer Massenentlassung in Gerlafingen demonstrierten besorgte Arbeiter vor dem Bundeshaus.
Und selbst der Klimastreik Schweiz forderte Unterstützung für das Stahlwerk, weil es klimaschonender produziere als die meisten Werke im Ausland. Solothurner Parlamentarier von links bis rechts forderten in seltener Einigkeit und mit gleichlautenden Vorstössen Staatshilfe.
Breite regionale Abstützung
Als dann auch noch das Stahlwerk Emmenbrücke eine Massenentlassung ankündigte, einigte man sich quasi in letzter Minute vor Beginn der Wintersession auf die Entlastung bei den Stromnetzkosten. Diese soll nun beschleunigt durch das Parlament gebracht und bereits Anfang Januar in Kraft treten.
Um das Anliegen auch regional möglichst breit abzustützen, wurde neben den beiden Stahlwerken in Nöten auch noch die Aluminiumgiesserei Novelis in den Kreis der Unterstützungsberechtigten aufgenommen. Das Aluminiumwerk im Wallis wurde bei den Unwettern im vergangenen Sommer schwer getroffen.
Gute Chancen auch im Ständerat
Weil nun neben den Solothurner und Zentralschweizer Parlamentsmitgliedern auch noch die Walliser Vertreterinnen und Vertreter für die Hilfe kämpfen, dürfte die Entlastung bei den Netzkosten auch im Ständerat Erfolgschancen haben.
Das Parlament würde damit aber deutlich von der bisherigen Linie abweichen, keine Industriepolitik zu machen. Ob die Entlastung bei den Stromnetzkosten reichen wird, damit die Stahlwerke überleben können, muss sich aber erst noch zeigen. Zumindest Stahl Gerlafingen kündigte bereits an, die geplante Massenentlassung auszusetzen.
Wirtschaftsminister Parmelin warnte im Vorfeld, es gebe europaweit eine massive Stahlüberproduktion. Und die Krise der deutschen Autoindustrie hat die Absatzprobleme in der europäischen Stahlproduktion zusätzlich verschärft.