Ihre Augen leuchten, wenn sie von ihrem Beruf spricht. Sich um Menschen zu kümmern, sei eine wunderbare Art Geld zu verdienen, schwärmt Cevincia Singleton. Und doch ist da auch etwas trauriges in den Augen der 31-jährigen Pflegefachfrau. «Manchmal gehe ich nach einer Schicht im Spital nach Hause und bin einfach nur wütend, frustriert und enttäuscht.»
Der Beruf sei nicht mehr so, wie sie ihn einmal kennengelernt habe. Sie könne Patienten nicht mehr gerecht werden, schon gar nicht ihren zwischenmenschlichen Ansprüchen. Pflegen heisse ja auch Anteil nehmen und Schicksale mittragen. «Am besten man klont sich.» Das System laufe am Limit – «nicht erst seit Corona», sagt Cevincia Singleton. Die Erfahrungen aus ihrem Alltag haben sie dazu bewogen der Gewerkschaft VPOD beizutreten. Dort setzt sie sich für die Rechte des Pflegepersonals ein.
Cevincia Singleton berichtet von haarsträubenden Situationen. Zum Beispiel von dieser: Vor ein paar Wochen seien drei Kollegen krank gewesen. Sie hätten dann auf der Intensivstation zu dritt sechs Patienten, vier davon beatmet, betreuen müssen. Normalerweise komme auf einen Patienten eine Pflegeperson. Prompt habe es einen Notfall gegeben: Bei einer Medikamentendosierung sei jemandem wegen des Stresses ein Fehler unterlaufen, der schlimmer hätte ausgehen können.
Manchmal habe ich Albträume
Solche Situationen machten Angst und unzufrieden, sagt Cevincia Singleton. Das komme zwar nicht oft vor, aber manchmal habe sie auch Albträume. Dann wache sie besorgt auf. «Ich rufe dann meine Kollegen an und vergewissere mich, dass ich während meiner Schicht auch wirklich nicht vergessen habe.» Erst dann könne sie ruhig schlafen.
Von Albträumen bei Pflegenden berichtet auch Elvira Wiegers von der Gewerkschaft VPOD. «Das Personal ist am Rande einer physischen und psychischen Erschöpfung», sagt sie. Corona habe das Fass zum Überlaufen gebracht.
Pflegepersonal schlägt schon lange Alarm
Die Probleme in der Branche sind nicht neu. Seit Jahren fordern die Pflegenden und die Gewerkschaften mehr Lohn, weniger Überstunden, verlässlichere Dienstpläne oder dass mehr Personal ausgebildet wird. 2017 hat der Verband des Pflegefachpersonals eine Volksinitiative lanciert, in der er bessere Arbeitsbedingungen fordert und dass mehr Personal ausgebildet wird. «Es muss endlich etwas passieren», sagt auch Cevincia Singleton.
Die Schweiz bildet zurzeit nur rund die Hälfte des Pflegepersonals aus, das sie eigentlich bräuchte. Experten schätzen, dass bis in zehn Jahren 65'000 Pflegekräfte fehlen. Das ist ungefähr so viel wie Lugano Einwohner hat. Dazu kommt: Viele steigen aus dem Beruf aus.
Wer will bei solchen Aussichten, denn schon in diesen Beruf?
Cevincia Singleton zweifelt, dass sich an den Verhältnissen in ihrem Beruf rasch etwas ändert. «Wer will bei solchen Aussichten, denn schon in diesen Beruf?». Da nütze auch eine Ausbildungsoffensive nichts, wenn die Leute den Beruf danach wieder verlassen würden, sagt die junge Pflegefachfrau.
Wie schlecht sind die Arbeitsbedingungen wirklich?
Für Cevincia Singleton haben die Probleme 2012 mit der Revision des Krankenversicherungsgesetzes angefangen. Seither gilt ein neues Tarifsystem. Krankheiten und Operationen haben quasi ein Preisschild bekommen. Das Problem: Die Arbeit der Pflegenden wird in diesem Tarifsystem nicht als Leistung betrachtet, die einen Preis hat, sondern vor allem als Kostenfaktor.
Kosten wollen Unternehmen aus betriebswirtschaftlicher Sicht möglichst tief halten. Mit anderen Worten, alles muss so schnell wie möglich gehen. Mit dem neuen Tarifsystem sind Leistungen auch vergleichbar geworden. Spitäler stehen in einem grösseren Wettbewerb und unter Spardruck. Diesen bekämen vor allem die Pflegenden zu spüren, findet Singleton.
Der Spitalverband wehrt sich gegen die Kritik des Pflegepersonals. «Wir sind in einen gesetzlichen Rahmen eingebunden», sagt Anne-Geneviève Bütikofer, Direktorin des Spitalverbands H+. Das neue System mache es schwieriger, kostendeckend zu arbeiten. Deshalb sei es tatsächlich so, dass weniger Personal und vor allem auch weniger spezialisiertes Personal im Einsatz sei als noch vor zwanzig Jahren.
«Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, dass mit dem technologischen Wandel Arbeiten und Prozesse auch effizienter geworden sind», betont Bütikofer. Zudem sei es für Spitäler schwierig, überhaupt genug Personal zu finden. Schwierig werde es erst recht, wenn es um hoch-spezialisiertes Personal gehe. Darum sehe auch der Spitalverband Handlungsbedarf. Die Pflegeinitiative gehe aber zu weit.
Wenn zum Beispiel die Anzahl Patientinnen und Patienten pro Pflegeperson limitiert werde, wie es die Initiative fordere, dann bedeute das noch lange nicht eine bessere Qualität, ist Bütikofer überzeugt. Bei der Ausbildung verlangt aber auch der Spitalverband einen Effort von Bund und Kantonen.
Parlament einigt sich auf eine Ausbildungsoffensive
In der kommenden Sommersession wird sich auch das Parlament mit der Pflegeinitiative befassen. Bereits behandelt hat es einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative. National- und Ständerat einigten sich dabei auf einen Kompromiss. Die Kantone sollen dazu verpflichtet werden, mehr Personal auszubilden. Der Bund soll sie dabei mit einer halben Milliarde Franken unterstützen.
«Es muss endlich etwas passieren, auch als Anerkennung für die Leistung des Pflegepersonals in der aktuellen Krise», forderte die Tessiner SP-Ständerätin Marina Carobbio. Offenbar entsprach das der Mehrheit der Ratsmitglieder.
Mit dem indirekten Gegenvorschlag stärken wir die Ausbildung und das Berufsbild der Pflege
«Mit dem indirekten Gegenvorschlag stärken wir die Ausbildung und das Berufsbild der Pflege», sagt CVP-Nationalrätin und Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel. Es brauche dringend Veränderungen, gerade jetzt in dieser Zeit. Das Gesundheitspersonal brauche mehr als Applaus von den Balkonen.
Cevincia Singleton will mehr als das, was im Gegenvorschlag steht. Es brauche nicht nur mehr Personal, sondern auch bessere Arbeitsbedingungen, damit die Leute auch bleiben. Das sei Sache der Kantone und der Sozialpartner und nicht des Bundes, entgegnet Ruth Humbel. Cevincia Singleton will auf jeden Fall weiter kämpfen.
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