Steigender Druck, zu wenige Pflegende in der Ausbildung, und eine alternde Bevölkerung, die mehr Pflege braucht: Mit diesen einleuchtenden Fakten wird der Pflegenotstand beschwört. Mit Blick auf die internationalen Zahlen ist die Lage aber zumindest heute vergleichsweise gut: Die Schweiz figuriert beim Pflegepersonal pro tausend Einwohner an vorderster Stelle neben Norwegen, Island und Deutschland.
Ist das ein Notstand? Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Schweizerischen Pflegefachpersonalverbandes, sagt dazu: «Aus unserer Sicht haben wir einen Notstand. Gemäss Jobradar sind 11'000 Pflegestellen offen. Bis 2030 brauchen wir 65'000 zusätzliche Pflegende, davon sind alleine 29'000 diplomierte Pflegefachpersonen. Und wir bilden aktuell nicht einmal die Hälfte davon aus.»
Kündigungsgrund Nr. 1: Emotionale Erschöpfung
Ausserdem steigt fast die Hälfte wieder aus dem Beruf aus, viele davon sogar sehr früh. «Der Hauptaustrittsgrund ist, dass sie sich emotional erschöpft fühlen», erklärt Ribi. «Das heisst, dass die Verantwortung sowie das, was man machen könnte und das, was man tun müsste, nicht mehr in einem Gleichgewicht sind. Sie müssen Entscheidungen fällen und stehen unter einem enormen Zeitdruck, den sie nicht mehr verantworten können.»
Das Problem dürfte sich weiter verschärfen: Laut Prognosen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan benötigt die Schweiz im nächsten Jahrzehnt ein Drittel mehr Pflegefachkräfte als heute. Heute werden fehlende Pflegerinnen und Pfleger zahlreich im Ausland rekrutiert.
Ausbildung stärken, Berufsbild ausbilden
Das sei keine gute Lösung, sagt Martin Leschhorn, Geschäftsführer des Netzwerks Medicus Mundi Schweiz: «In gewissen Ländern von Osteuropa ist das Gesundheitssystem schon recht schwach. Dort gibt es schon viel weniger Gesundheitspersonal als bei uns. Und dieses Personal, das wir in die Schweiz rekrutieren, fehlt dann dort.» Medicus Mundi fordert mehr Investitionen in die Ausbildung in der Schweiz.
Das alleine werde aber wenig nützen, sagt Gesundheitsökonom und Berater Willy Oggier. Die entscheidende Frage sei, was für ein Berufsbild angestrebt werde, welche Rollen die Pflege übernehmen solle: «Seit ich im Gesundheitswesen tätig bin, hat man bei jeder Ausbildungsreform genau diese Frage sträflich vernachlässigt und damit faktisch ein Burnout bei den Pflegenden produziert, wenn sie in die Praxis gekommen sind.»
Über Jahre hinweg sei am Bedarf vorbei ausgebildet worden, was zu Über- und Unterforderung bei den Pflegerinnen und Pflegern führe, kritisiert Oggier. Deswegen sattelten auch so viele auf andere Berufe um.
Digitalisierung fordert neue Aufgaben
Mit mehr vom Gleichen könne man das Problem nicht lösen. «Die Halbwertszeit des medizinischen Wissens beträgt heute rund drei Jahre. Die Digitalisierung schreitet voran, die Robotik macht gigantische Fortschritte – hier werden ganz andere Funktionen und Rollen gefragt sein.»
So könnten in Zukunft Roboter Pflegearbeit übernehmen. Dies würde dem Mangel an Personal entgegenwirken. Und das Personal habe dann andere Aufgaben, so Oggier. Ohne dies aber droht tatsächlich ein Notstand in Spitälern, Pflegeheimen und bei der Spitex. Auch wenn die Schweiz im internationalen Vergleich heute gut dasteht.