Man will Freunde sehen, baden gehen und ins Kafi. Es sieht schon fast wie «Courant normal» aus, wenn nicht die täglichen Updates zu Infektionszahlen uns immer wieder daran erinnern würden, dass wir immer noch im «Courant Corona» sind.
Bei den einen löst das Angst aus, andere haben die Nase voll. Unlängst sagte der Infektiologe Pietro Vernazza der «Sonntagszeitung»:
Wenn ich aus Angst vor Corona mit allem aufhöre, was mir Freude bereitet, ist das für mich kein lebenswertes Leben mehr.
Das Virus sei weniger gefährlich als gemeinhin vermutet, sagt er im Interview weiter. Nach neuesten Erkenntnissen könne davon ausgegangen werden, dass nicht 30'000 bis 100'000 Menschen in der Schweiz an Corona sterben werden. Ausserdem könnte die Epidemie früher abklingen als bisher angenommen.
Dem stimmt auch der emeritierte Genfer Infektiologe Bernard Hirschel zu: «Bei jeder Epidemie gibt es zuerst einen grossen Alarm.» Wenn man aber genauer hinschaue, sehe man, dass viele Infizierte keine Symptome hatten und deswegen nicht diagnostiziert wurden.
Die Sterblichkeitsrate wird anhand der Anzahl getesteter Infizierter und gestorbener Patienten errechnet. Gegenwärtig geht die Swiss-Covid-Taskforce davon aus, dass die Rate zwischen 0.5 und 1 Prozent liegt. Verschiedene Forschergruppen und Forscher gehen allerdings von einer tieferen Sterblichkeitsrate als 0.5 Prozent aus.
Eine Studie der Universität Genf fand mittels Bluttest heraus, dass sich etwa zehnmal mehr Menschen mit dem Virus infiziert hatten, da diese Antikörper gegen das Virus entwickelt haben: Offiziell wurden bis zum 24. April in Genf 4700 Menschen positiv auf das Coronavirus getestet. Bis zum selben Datum hatten aber bereits 48'500 Genfer Antikörper im Blut. Damit sinkt die Sterblichkeitsrate erheblich.
Was heisst das nun?
Weil die Sterblichkeitsrate tiefer ist, als angenommen, fordert Infektiologe Pietro Vernazza die Prüfung eines Plan B als Alternative zur gegenwärtigen Ausrottungsstrategie des Bundes: die differenzierte Durchseuchung. Das heisst, man lässt dem Virus vorsichtig seinen Lauf, bis die Bevölkerung eine Immunität aufgebaut hat. Gegenüber SRF sagt Pietro Vernazza:
Vielleicht wäre es eine Lösung, wenn die jüngere Bevölkerung dosiert mit dem Virus in Kontakt kommt und so eine Abwehr für die ältere Bevölkerung aufbaut. Das müsste man prüfen.
Die Idee dahinter: Junge, die zumeist milde Krankheitsverläufe haben, sollen sich anstecken und werden danach möglicherweise immun. So können sie die gefährdeten Älteren nicht mehr anstecken. Ob aber diese Strategie erfolgreich ist, kann man erst in zwei Jahren beurteilen.
Je nach Verlauf der Infektionsraten bleibt uns vielleicht gar keine andere Wahl. Wenn sich wieder immer mehr Menschen anstecken, scheint die Strategie des Bundes nicht wie gewünscht zu greifen, vor allem wenn noch kein Impfstoff vorhanden ist.
Ähnliche Situation wie bei der Grippe
Beim Plan B könnte es sein, dass man dann eine Situation hat, wie bei der saisonalen Grippe. Die Gesellschaft lebt damit, dass pro Jahr ein paar hundert oder ein paar tausend Menschen an der Grippe sterben. Möglicherweise wird das nun ähnlich sein. Die Gesellschaft wird akzeptieren, dass Menschen immer wieder am Coronavirus sterben.
Wir wissen inzwischen einiges mehr über dieses Virus: Etwa, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, für die es viel gefährlicher ist. Hauptsächlich müssen die Senioren geschützt werden. Panik müssten wir nicht haben, meint Antoine Flahault, Direktor für Weltgesundheit an der Universität Genf.
In einem Punkt sind sich aber alle Forscher einig: Es besteht die Möglichkeit, dass dieser gegenwärtige «Courant Corona» vielleicht für die nächste Zeit zum «Courant normal» unserer Gesellschaft wird.