Ab dem 11. Mai lockert der Bund die Corona-Massnahmen weiter. So öffnen beispielsweise die obligatorischen Schulen wieder und auch Restaurants können mit einem Schutzkonzept ihre Türen öffnen. Tanja Stadler, Professorin am Departement für Biosysteme an der ETH, sieht diesen Lockerungen mit Skepsis entgegen.
SRF News: Als Mathematikerin wissen Sie, wie man Zahlen und Daten zur Verbreitung des Virus liest. Mit welchem Gefühl schauen Sie als Wissenschaftlerin auf den nächsten Montag?
Tanja Stadler: Ich habe da ein mulmiges Gefühl. Es ist natürlich sehr erfreulich, dass wir basierend auf den Fallzahlen nun Schritte in eine neue Normalität wagen können. Aber wir können da natürlich eine zweite epidemiologische Welle heraufbeschwören.
Was ist für Sie die grösste Gefahr?
Mit den ganzen Lockerungen – und das sind ja sehr viele auf einmal – kann es natürlich passieren, dass wir wieder enorm viele Neuinfektionen haben. Und das Problem ist, dass wir die nicht am 11. Mai und auch nicht am 12. Mai sehen.
Vor dem 21. Mai sehen wir gar nicht, wenn irgendwas falsch läuft.
Wenn sich eine Person am 11. Mai ansteckt, sehen wir diese Infektion ungefähr am 21. Mai, denn die Person wird dann erst als positiv bestätigt. Der Fall wird erst dann statistisch erhoben. Vor dem 21. Mai sehen wir gar nicht, wenn irgendwas falsch läuft und können auch nicht einschreiten. Sondern erst einige Tage danach.
Welche Rolle spielt Social Distancing bei der Eindämmung des Virus?
Wir wissen, dass das Social Distancing enorm wichtig ist, um die Pandemie zu kontrollieren. In unseren Berechnungen haben wir gesehen, dass Social Distancing zusammen mit den Hygienemassnahmen und auch der Absage von Grossveranstaltungen schon bewirkt hat, dass eine Person nur noch die Hälfte an Neuansteckungen erzeugt. Jeder einzelne von uns hat sehr viel dazu beigetragen, dass wir jetzt so erfreuliche Zahlen haben.
Was Tanja Stadler hier anspricht, ist die Reproduktionszahl R. Was es mit dieser Zahl auf sich hat, ist in folgendem Video erklärt:
Frau Stadler, warum ist diese Limite 1 bei der Reproduktionszahl so wichtig?
Dazu kann ich gerne ein Beispiel machen: Eine Reproduktionszahl von 2 steckt zwei Personen an, diese zwei Personen stecken vier an, diese dann acht, sechzehn und so weiter. Wir haben also ein exponentielles Wachstum. Wenn wir unter dieser Schwelle von 1 sind, heisst das, dass die Pandemie abnimmt. Bei der Zahl 1 handelt es sich um einen Schwellenwert zwischen exponentiellem Wachstum und Abnahme der Pandemie.
Sollte dieser Schwellenwert ab dem 11. Mai wieder überschritten werden, sehen Sie die Gefahr, dass wir mit den Massnahmen wieder strenger werden müssen?
Die Gefahr ist tatsächlich da. Wir lockern jetzt die Massnahmen. Das bedeutet, dass wir mehr neue Ansteckungen haben. Jetzt brauchen wir ein Gegensteuern. Also spezifische Massnahmen, viele Tests, damit wir die Personen, die tatsächlich positiv sind. Diese müssen wir dann isolieren und die Kontakte nachverfolgen. Und so wäre meine Hoffnung, dass wir unter 1 bleiben können, obwohl wir lockern.
Das Gespräch führte Urs Gredig.