Fabienne W. wird am 28. Dezember 2021 zum Abendessen eingeladen. In die Privatwohnung eines Anwalts in Schaffhausen. Sie ist Hobby-Musikerin und glaubt, der Mann interessiere sich für ihre Musik. Vor Ort habe sie aber gemerkt, dass der Anwalt sie davon abbringen wollte, Anzeige gegen einen seiner Kumpel zu machen. Dieser soll Fabienne W. rund eine Woche vorher vergewaltigt haben.
Die Hobby-Musikerin sagt gegenüber der «Rundschau», sie habe von einer Anzeige nicht absehen wollen. Klar ist: Einige Stunden später wurde sie in der Wohnung des Anwalts brutal verprügelt. Sie vermutet, es sei um Einschüchterung gegangen. Der angeschuldigte Anwalt und drei seiner Kollegen, die in jener Nacht ebenfalls in der Wohnung waren, bestreiten dies. Sie sagen: Fabienne W. habe randaliert, sie hätten lediglich versucht, sie zu beruhigen.
Am nächsten Morgen wird Fabienne W. in der Schaffhauser Altstadt gefunden: spitalreif geprügelt. Noch am selben Tag beginnt die alarmierte Schaffhauser Polizei mit Ermittlungen.
Prügel beim Anwalt – Kameras zeichnen auf
Dank Aufnahmen von Überwachungskameras weiss man heute, was sich in den letzten Stunden in der Tatnacht in der Wohnung des Anwalts abspielt. Wie aus den Akten hervorgeht, hat der Anwalt in seiner Wohnung zwei solche Kameras installiert.
Nach der Tatnacht sollen die Bilder dieser Kameras sichergestellt werden, um die Ereignisse zu rekonstruieren. Der Auftrag der Staatsanwaltschaft an die Polizei lautet darum gemäss Durchsuchungsbefehl: «Die anlässlich der Hausdurchsuchung auffindbaren Speichermedien sind zu durchsuchen und auszuwerten.»
Vor Ort sagt der Anwalt der Polizei, die Überwachungsaufnahmen würden «auf einem Computer abgespeichert». Der Bildschirm für diesen Computer sei allerdings kaputtgegangen. Er zeigt den Polizisten Bilder einer Überwachungskamera auf seinem Mobiltelefon, welche die Polizisten von dort abfilmen: ohne Ton und in schlechter Qualität.
Fragwürdige Ermittlungsschritte
Konrad Jeker gehört zu den renommiertesten Strafverteidigern der Schweiz. Gegenüber der «Rundschau» bezeichnet er das Vorgehen der Schaffhauser Polizei als «unglaublich». Und weiter: «Das widerspricht kriminalistisch allen Standards, die bekannt sind.» Die Polizei habe den Auftrag «schlicht nicht erfüllt».
Am nächsten Tag müssen die Polizisten zu einer zweiten Hausdurchsuchung beim Anwalt ausrücken. Denn sie haben inzwischen gemerkt, dass es in der Wohnung nicht nur eine, sondern zwei Überwachungskameras gibt. Ihr Auftrag dieses Mal: «Die anlässlich der Hausdurchsuchung auffindbaren Speichermedien bzw. elektronischen Geräte sind zu durchsuchen und auszuwerten.»
Die Polizei kehrt mit einem USB-Stick zurück, auf dem die Überwachungsbilder der letzten Stunden dieser Nacht sind – der Anwalt habe ihnen geholfen, die Bilder zu sichern. Für Konrad Jeker ist klar: «Auch dieser Auftrag wurde nicht wahrgenommen.»
Mobiltelefon ein Jahr später ausgewertet
Im Frühling 2023, also über ein Jahr nach den Vorfällen vom 29. Dezember 2021, muss die Schaffhauser Polizei noch einmal eine Hausdurchsuchung beim Anwalt durchführen. Der Auftrag der Polizei lautet: «Die auffindbaren Mobiltelefone», sofern mehrere vorhanden sein sollten, sicherstellen und auswerten.
Zurück kommt die Polizei mit einem Handy, welches der Anwalt freiwillig herausgibt und siegeln lässt. Nach weiteren Telefonen wurde nicht gesucht.
«Wieder das Gleiche: Job nicht gemacht», sagt dazu Konrad Jeker. Das Fazit des Strafverteidigers zur Ermittlungsarbeit der Polizei: Sie habe die Aufträge der Staatsanwaltschaft mehrfach nicht ausgeführt. «Das ist nichts anderes als Befehlsverweigerung.»
Behörden weisen Vorwürfe zurück
Die «Rundschau» hat im Kanton Schaffhausen Polizei, Staatsanwaltschaft und Justizdepartement mit den Vorwürfen konfrontiert. Mit Verweis auf das laufende Verfahren haben es die Behörden abgelehnt, vor der Kamera Stellung zu nehmen. In einer gemeinsamen schriftlichen Stellungnahme weisen sie sämtliche Vorwürfe als haltlos und falsch zurück (siehe Box «Stellungnahme der Schaffhauser Behörden»).
Der beschuldigte Anwalt reagierte auf mehrere Anfragen der Redaktion nicht.
Fabienne W. traumatisiert und wütend
Fabienne W. leidet heute an einer post-traumatischen Belastungsstörung. Sie habe Schlafstörungen und Gemütsschwankungen, bleibe fast nur noch für sich. Sie ist aber auch wütend. Und sagt, nicht nur die massiven Übergriffe hätten sie traumatisiert, sondern auch das Vorgehen der Behörden, welche die Täter offensichtlich mit Samthandschuhen angefasst hätten.
Das Verfahren wegen Vergewaltigung bzw. Schändung wurde inzwischen eingestellt. Fabienne W. hat dagegen Beschwerde eingelegt. In Zusammenhang mit den schweren Misshandlungen wurde noch keine Anklage erhoben gegen die Hauptbeschuldigten. Für alle Beschuldigten gilt die Unschuldsvermutung.