In allen Regionen der Schweiz sollen Krisenzentren für Opfer von sexueller, häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt entstehen. Die Krisenzentren sollen medizinische und psychologische Soforthilfe sowie eine Nachbetreuung für Gewaltopfer anbieten. Auch eine Spurensicherung ohne Anzeigepflicht soll möglich sein.
Der Ständerat folgte am Montag dem Nationalrat und hat zwei gleich lautenden Motionen der Nationalrätinnen Tamara Funiciello (SP/BE) und Jacqueline de Quattro (FDP/VD) zugestimmt.
Viele Betroffene – nur wenig spezialisierte Soforthilfe
Sophia* wurde mit 23 Jahren vergewaltigt: «Es war mitten in der Nacht. Ich wusste eigentlich, ich müsste jetzt zur Polizei gehen. Aber ich war nicht in der Lage. So ging ich nach Hause und ging duschen». Erst sechs Monate später meldete sie sich bei der Polizei.: «Ich erstattete Anzeige. Ich hatte aber keine Chance, weil ich zu wenig Beweise hatte – die Spuren waren ja schon lange weg. Ich hätte mir im ganzen Prozess mehr Unterstützung gewünscht. Von der Polizei, medizinisch, aber auch juristisch.»
Es ist wichtig, dass Betroffene sexueller Gewalt die Möglichkeit haben, die Spuren ohne Anzeigepflicht sichern zu lassen.
Sophia ist kein Einzelfall. Jede fünfte Frau in der Schweiz hat sexuelle Gewalt erlebt. Nur 10 Prozent gingen zur Polizei. Die Dunkelziffer ist gross. Spezialisierte medizinische und psychologische Soforthilfe für Opfer von häuslicher, sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt gibt es nur in wenigen Kantonen. Ebenso gibt es in vielen Regionen nicht die Möglichkeit, die Spuren der Gewalt durch die Rechtsmedizin dokumentieren und sichern zu lassen, um danach in Ruhe entscheiden zu können, ob man eine Anzeige machen will oder nicht.
Im Kanton Bern besteht es ein solches Angebot in der Frauenklinik am Inselspital. Nebst einer spezialisierten Soforthilfe sowie Nachbetreuung sei die Spurensicherung ohne Anzeigepflicht besonders wichtig, erklärt die leitende Ärztin Sylvie Schuster: «In dem Moment, wo die Betroffenen zu uns kommen, ist das Ereignis meist noch frisch.»
Betroffene müssten dann viele Entscheidungen treffen, z.B. ob sie eine Prophylaxe wegen HIV möchten usw. «Es ist gut, dass sie die Möglichkeit haben, noch zu überlegen, ob sie eine Anzeige erstatten wollen oder nicht. So haben sie Zeit, Informationen einzuholen und mit einer Anwältin zu sprechen.» Die Spuren werden dann mehrere Jahre aufbewahrt.
Frauenpikett bei der Kantonspolizei
Will eine Frau Anzeige erstatten, kommt im Kanton Bern bei der Kantonspolizei jeweils ein spezielles Frauenpikett zum Einsatz. Das ist ebenfalls Teil des interdisziplinären Berner Krisen-Modells. Nicole Fernandez ist Fachverantwortliche für Sexualdelikte der Kantonspolizei Bern: «Das Frauenpikett wird sofort aufgeboten, sobald sich bei uns ein weibliches Opfer wegen eines Sexualdelikts meldet. Die Mitarbeitenden sind besonders geschult. Sie machen die Einvernahmen und sie sind letztlich auch während des ganzen Verfahrens Ansprechperson für die Opfer.»
Das Frauenpikett wird sofort aufgeboten, sobald sich ein weibliches Opfer bei der Kantonspolizei Bern wegen eines Sexualdelikts meldet.
Angebote wie in Bern soll es also in Zukunft in allen Regionen der Schweiz geben. Nach der Zustimmung des Parlaments ist der Bundesrat nun beauftragt, in den kommenden zwei Jahren die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die neuen Krisenzentren zu schaffen.
*Name der Redaktion bekannt.