Freitagnachmittag, bestimmten Schrittes kommt alt Bundesrat Joseph Deiss zum Gebäude der Universität Freiburg an der l’Avenue de l’Europe. Hier wird ihm der Europapreis 2021 der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz verliehen. Der Himmel ist grau und es regnet in Strömen. Die Szenerie wirkt in etwa genauso düster, wie das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU rund um das Rahmenabkommen.
Doch Joseph Deiss schafft an diesem Nachmittag etwas Klarheit. Denn er findet deutliche Worte zum Rahmenabkommen: «was ich nicht nur vom Bundesrat, sondern auch vom Parlament und den politischen Parteien erwarte, ist, dass dieses Geschäft jetzt nicht abgewürgt wird, bevor es vors Volk kommen kann. Das wäre eine Verhinderung für das Volk, sich zu so einem wichtigen Thema auszusprechen.»
Keine Einzelerscheinung
Ähnlich wie Joseph Deiss äussern sich in den letzten Wochen und Monaten immer mehr alt Bundesrätinnen und alt Bundesräte zum Rahmenabkommen. So beteiligt sich auch seine Nachfolgerin in der Landesregierung, Doris Leuthard, aktiv an der Diskussion. Wie Deiss ist sie Teil der Bewegung «progresuisse» und engagiert sich für das Rahmenabkommen.
Der ehemalige FDP-Bundesrat Pascal Couchepin äusserte sich am Freitag gegenüber der «Schweizer Illustrierten» und auch Arnold Koller legte seine Meinung zum Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU in einem Gastbeitrag anfangs April in den CH-Medien dar.
In die illustre Liste reiht sich auch alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey ein. Die Ex-Aussenministerin ist skeptisch gegenüber dem Rahmenabkommen und findet sehr klare Worte für die Arbeit des Bundesrates. «Ich finde die Lage eher peinlich. Der Bundesrat scheint nicht zu wissen, was er will», sagte sie in der «Rundschau». Sehr kritische Töne gegenüber dem Rahmenabkommen schlug Johann Schneider-Ammann in einem Gastartikel letzten Herbst in der NZZ an.
Eine neue Entwicklung
Das sich ehemalige Mitglieder des Bundesrates nach ihrer Zeit in der Landesregierung politisch äussern, ist eher ungewöhnlich. Laut Adrian Vatter, Professor für Schweizer Politik an der Universität Bern, handelt es sich um eine neue Erscheinung.
Entscheidend dabei sei zum einen die Personalisierung der Medien und zum anderen spiele die Persönlichkeit der alt Bundesrätinnen und alt Bundesräte eine Rolle, denn es äussern sich «diejenigen, die sich gewohnt sind, dass sie eine hohe mediale Aufmerksamkeit haben wie Adolf Ogi oder Doris Leuthard. Oder es sind diejenigen, die eigentlich gerne noch etwas weiterregieren möchten, die einen Führungsanspruch, einen Gestaltungsanspruch haben. So wie etwa Micheline Calmy-Rey oder Pascal Couchepin.»
Und was bewog Joseph Deiss sich zum Rahmenabkommen zu äussern? «Ich mische mich üblicherweise nicht ins Tagesgeschäft ein, sondern stehe zur Verfügung für grosse und wichtige Fragen, die unser Land betreffen und hier geht um das Erfolgsrezept der letzten 20 Jahre, das Gefahr läuft, abgewürgt zu werden und das möchte ich verhindern», so der alt Bundesrat.