Luana Schena schiebt beim Gehen einen weissen Stock vor sich her. Und sie trägt eine Sonnenbrille, obwohl die Sonne nicht scheint. Sie tut das, weil eines ihrer Augen keine Iris hat und darum sehr lichtempfindlich ist. Die 21-Jährige ist praktisch blind. Und macht Politik.
«Ich habe mich sehr gefreut. Für mich war nicht klar, dass ich es schaffe». Die Geografie-Studentin spricht über ihre Wahl in den Studierendenrat an der Universität Zürich. Dort vertritt sie die Studierenden des Campus’ Irchel, auf dem die Naturwissenschaften angesiedelt sind.
Und sie möchte sich auch für die Studierenden mit einer Behinderung einsetzen. Denn Luana Schena ist auch Präsidentin einer Kommission für Studierende mit Behinderung, deren Schaffung auf eine Anregung von ihr zurückgeht.
Politisierung schon in jungen Jahren
Die junge Frau aus Sargans (SG) interessierte sich schon als Teenagerin für Politik. Mit 14 beschäftigte sie sich in der Schule mit dem Klimawandel und begann sich für Umweltthemen zu interessieren. «Damit, dass ich behindert bin, hatte mein politisches Interesse zunächst nicht direkt zu tun», sagt sie heute.
Damit, dass ich behindert bin, hatte mein politisches Interesse zunächst nicht direkt zu tun.
Sie sei deswegen höchstens schon früh für Ungerechtigkeiten sensibilisiert worden, weil sie solche als Mensch mit einer Einschränkung immer wieder erfahren habe. So wurde sie etwa in der Primarschule gemobbt. «Für einige Mitschülerinnen und Mitschüler war es schwer zu ertragen, dass ich trotz meiner Sehbehinderung die Beste war in der Klasse.»
Bei ihrer ersten politischen Aktion für die jungen Grünen, Jahre später, wurde sie rasch mit ihrer Beeinträchtigung konfrontiert. Sie sammelte Unterschriften für eine Volksinitiative und merkte, dass sie da an eine Grenze kommt.
«Mit meiner Rest-Sehkraft kann ich keine Distanzen einschätzen. Darum sah ich die Leute zu spät. Auch fiel es mir schwer, sie altersmässig richtig einzuordnen und zu erkennen, ob jemand schon 18 war oder nicht». Bei anderen politischen Aktionen, wie etwa Plakate aufhängen, musste sie ganz passen.
Vielen fehlt es am Selbstvertrauen
Das Erleben dieser Hindernisse gehört zur Karriere behinderter Politikerinnen und Politiker. Das weiss auch Claudia Spiess von der Universität Zürich. Sie leitet das Forschungsprojekt «Disabled in Politics», das vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen gegründet wurde.
Entscheidend ist, sagt sie, dass die Behinderten dennoch ein Selbstvertrauen entwickeln. «’Kann ich das?’ ist eine Frage die sich alle angehenden Politisierenden stellen, aber die mit einer Beeinträchtigung ganz besonders oft und intensiv. Zu sagen, ‘ich kann das, trotz allem’ braucht viel Selbstvertrauen.»
Was sie bei der Befragung von gut 40 Menschen mit Behinderung und politischen Ambitionen herausgehört hat: Wie Luana Schena wollen sie zunächst nicht in erster Linie wegen Themen in Zusammenhang mit der Behinderung in die Politik, sondern wegen anderer Interessen.
Mit der Zeit positionieren sich aber viele mehr oder weniger explizit als Vertreterinnen und Vertreter der behinderten Menschen. Ein logischer Vorgang, glaubt Wissenschafterin Spiess: «Wer soll es denn machen, wenn nicht sie?».
Schlechte Erfahrungen mit der eigenen Partei
Um aber politisch wirklich weiterzukommen, müssen die Menschen mit Behinderung neben eigenen Zweifeln auch jene in den Köpfen ihrer Parteifreundinnen und -freunden ausräumen und sich durchsetzen.
Auf diesem Weg hat Luana Schena einen Rückschlag erlitten. Nachdem sich die St. Gallerin zuerst bei der Juso und nachher in der SP-Kantonal- und Regionalpartei mehrere Jahre engagiert hat, machte sie sich 2020 berechtigte Hoffnungen auf einen guten Listenplatz bei den Kantonsratswahlen.
«Man hatte mir Position zwei in Aussicht gestellt», erzählt Schena. «Als es dann aber tatsächlich um die Listengestaltung ging, setzte man eine andere Frau auf diese Position und ich rutschte nach hinten.» Eine Grüne wurde ihr vorgezogen, in der Hoffnung, die Liste würde so - wegen der grünen Welle - mehr Stimmen bekommen.
Als es dann aber tatsächlich um die Listengestaltung ging, setzte man eine andere Frau auf diese Position und ich rutschte nach hinten.
Schena wehrte sich mit dem Argument, eine behinderte Person weit vorne auf der SP-Liste hätte doch Signalwirkung. «Da bekam ich den ‘Rat’: ‘Du solltest Dich nicht auf Deine Behinderung reduzieren’.» Das hat Luana Schena sehr getroffen und sie hat ihr Engagement in der SP aufgegeben.
Linke Parteien machen am meisten für Behinderte
Claudia Spiess und ihr Team von der Universität Zürich sind bei ihren Befragungen auf ähnliche Geschichten gestossen. Das zeigt, dass es vom guten Vorsatz, Behinderte zu integrieren, bis zum Handeln manchmal ein rechtes Stück Weg ist – auch bei linken Parteien, die sich offen für die Förderung von Behinderten in der Politik aussprechen.
Trotzdem sind und bleiben die Linken bei den Menschen mit Beeinträchtigung die ersten Adressen, wenn es darum geht, in die Politik einzusteigen. «Wir haben oft die Begründung gehört: Diese Parteien setzen sich am ehesten für uns ein», sagt Wissenschafterin Spiess.
Eine Auswertung der Behindertenorganisation agile.ch scheint das zu bestätigen. Agile.ch hat alle Vorstösse ausgewertet, die zwischen Herbst 2015 und Herbst 2019 im Parlament eingereicht wurden und einen Bezug zu Behinderten haben. Das Ergebnis: Die SP-Abgeordneten engagierten sich mit Abstand am meisten für die Behinderten.
Gut aus Sicht der Behinderten schnitt auch die (damalige) CVP ab. Hier ging ein guter Teil der Vorstösse auf das Konto von Christian Lohr, dem einzigen stark körperlich behinderten Parlamentarier.
Luana hat erstmals genug von der Politik
Für Luana Schena ist das Thema Parteipolitik vorerst abgeschlossen, auch wenn sie Mitglied der SP geblieben ist. Dafür, dass sie ausserhalb der Uni wieder politisch aktiv würde, müsste schon einiges passieren, sagt sie. Sie müsste die Gewissheit haben, dass die Partei sie wirklich stützt.
«Momentan», beobachtet Schena, «gibt es viele Lippenbekenntnisse. Sobald man aber als Behinderte einen Anspruch stellt, kommt die Zurückweisung.»
Der Podcast, der zeigt, was Politik in unserem Leben anstellt. Hier erfahrt ihr, wie und weshalb. Die Hosts Reena Thelly und Raphaël Günther zoomen mit Inlandjournalistinnen und -journalisten von SRF ganz nah ran, an die Schweizer Politik
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