Im Sommer und Herbst protestierten in Belarus Zehntausende, um gegen Wahlfälschung und gegen Machthaber Lukaschenko zu protestieren. Das Regime reagierte mit massiver Gewalt. Die Proteste sind leiser geworden. Die 38-jährige Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja versucht nun aus dem Exil, die Welt für ihre Sache zu gewinnen – auch die Schweiz.
SRF News: Die Schweiz ist ein kleines Land. Warum sind Sie ausgerechnet hierher gereist?
Swetlana Tichanowskaja: Die Grösse eines Landes ist unwichtig. Gerade kleine Länder haben sich sehr für unsere Revolution interessiert. Und mit der Schweiz gibt es eine besondere Verbindung, weil sich die Schweizer Bürgerin Natalia Hersche in Belarus im Gefängnis befindet. Wir möchten erfahren, was man hier darüber denkt.
Die Regierung hat uns signalisiert, dass man allfällige Konten von Lukaschenko blockieren werde.
Ausserdem ist die Schweiz das Land der Banken. Die Regierung hat uns signalisiert, dass man allfällige Konten von Lukaschenko blockieren werde. Aber wir wissen nicht, ob das geschehen ist. Das wollen wir herausfinden. Und wir haben Fragen, was die Sanktionen gegenüber Belarus anbelangt.
Was für Fragen?
Die EU hat drei Sanktionspakete erlassen. Die ersten beiden hat die Schweiz übernommen, dem dritten hat sich die Schweiz nicht angeschlossen. Bei uns gibt es einen Oligarchen namens Vorobey. Er wurde von der EU mit Sanktionen belegt. Und was hat er getan? Er ist für Ferien in die Schweiz geflogen. Denn die Schweiz hat die dritte Liste der Sanktionen nicht übernommen.
Lukaschenko selber befindet sich zwar auf der Schweizer Sanktionsliste. Trotzdem: Man sollte konsequent sein in seinen Handlungen. Verstehen Sie, bei uns herrscht Terror, die Leute leben in Unsicherheit. Deshalb sollte man nicht auf halbem Weg stehen bleiben.
Doch sind Sanktionen überhaupt wirksam?
Natürlich sind sie das. Die Leute wollen nicht auf einer Sanktionsliste landen. Denn dann friert man ihre Konten ein und beschränkt sie in ihrer Bewegungsfreiheit. Aber die Sanktionslisten könnten noch wirksamer sein, wenn man darauf nicht nur die hohen Beamten aufführen würde, sondern auch Leute wie Richter und gewöhnliche Polizisten, die von Haus zu Haus gehen. Dann würden sie es sich zehnmal überlegen, bevor sie etwas anrichten.
Auch Wirtschaftssanktionen sind wichtig. 2012 hat die Schweiz 32 Unternehmen mit Sanktionen belegt. Und heute, wo die Repression so viele Menschen betrifft, so viele Menschen ins Gefängnis geworfen wurden? Heute ist kein einziges Unternehmen sanktioniert. Das wirkt doch etwas merkwürdig.
Der Schweizer Bundesrat empfängt Sie nicht. Warum?
Es ist ihnen nicht gelungen, ein Treffen zu organisieren.
Und was kann der Schweizer Normalbürger, die Schweizer Normalbürgerin für Belarus tun?
Die Zivilgesellschaft unterstützen. Oder in einen Hilfsfonds einzahlen. Denn es gibt eine grosse Zahl von Repressionsopfern, Leute, die entlassen wurden oder das Land verlassen mussten. Das Einfachste aber ist, einem politischen Gefangenen einen Brief zu schreiben. Das dauert fünf Minuten. Aber das Glück, das Sie den Gefangenen damit schenken, in diesen dunklen Mauern, das lohnt diesen Aufwand.
Sie können sich an Ihre Regierung wenden, damit sie Belarus nicht aus dem Blick verliert.
Sie können sich auch an Ihre Regierung wenden, damit sie Belarus nicht aus dem Blick verliert. Und: Am 25. März ist unser Unabhängigkeitstag. Wenn die Schweizer zum Beispiel eine Fahne raushängen, auf dem Balkon, und der Nachbar darauf aufmerksam wird und fragt, dann wird das zu einem Moment des Austausches. Denn wir sind doch recht weit voneinander entfernt, und die Leute wissen leider nicht, was in Belarus vor sich geht.
Ihnen steht noch ein langer und harter Kampf bevor. Was ist Ihre Strategie?
Unsere Strategie hat sich seit den Wahlen wenig verändert: Vielfältiger Druck auf das Regime innerhalb von Belarus, Druck von ausserhalb, von anderen Ländern, politischer und ökonomischer Druck. Damit der Preis für den Erhalt der Macht grösser ist als der Preis von Verhandlungen. Und über Verhandlungen müssen wir zu neuen Wahlen gelangen. Das ist unser Ziel. Druck, Dialog und Wahlen.
Zurzeit ist die Repression sehr heftig, die Proteste werden unterdrückt. Hat sich das Regime stabilisiert?
Nach aussen hin versucht das Regime selbstsicher aufzutreten. Die Leute verstehen aber, dass es taumelt und Risse hat. Im Innern des Systems herrscht grosser Druck, niemand fühlt sich völlig sicher, die Leute des Systems verdächtigen alle. Die Nomenklatura, die Ministerien – sie sind blockiert, sie können nicht arbeiten, sind demoralisiert. Und es ist klar, dass Lukaschenko vor allen Leuten um sich herum Angst hat, allen misstraut. Alle verstehen, dass er das Image des starken Führers verloren hat.
Sie haben für den 25. März zu Protesten aufgerufen. Werden die Leute auf Sie hören?
Die Leute haben das Bedürfnis, ihren Widerstand zu zeigen. Es ist aber nicht so, dass ich dazu aufgerufen habe. Ich unterstütze die Leute, die den Mut finden und es notwendig finden rauszugehen. Es gibt aber Menschen, die das nicht tun können. Sie werden mit anderen Mitteln kämpfen.
Der belarussische Schriftsteller Sascha Filipenko hat die Zustände in Belarus eine humanitäre Katastrophe genannt. Einverstanden?
Ja. Dieses Regime zwingt die Leute mithilfe von Knüppeln und Waffen, sich absolut rechtlos zu fühlen. Als absoluten Niemand. Es ist eine völlige Entwertung der Menschen. Man nimmt ihnen die Grundrechte weg, das Recht auf das eigene Wort, das Recht, in ihrem Beruf zu arbeiten.
Dieses Regime zwingt die Leute mit Hilfe von Knüppeln und Waffen, sich absolut rechtlos zu fühlen.
Sagt ein Arzt die Wahrheit über Corona, wird sein Vertrag nicht verlängert. Sagen Blogger die Wahrheit: Gefängnis. Selbstverständlich ist das eine humanitäre Katastrophe. Die Menschen müssen in der Gesetzlosigkeit leben.
Kann die Repression alle treffen?
Niemand ist geschützt. Das Ziel ist, die Menschen so stark einzuschüchtern, dass sie schon gar nicht mehr auf die Idee kommen, zu protestieren. Die Leute haben aufgehört, sich in Sicherheit zu fühlen. Und die, die an Protesten teilgenommen haben, packen jeden Morgen zusätzliche Socken, Seife, Zahnpasta ein, für den Fall, dass sie verhaftet werden.
Das Gespräch führte Judith Huber.