In einer aktuellen Studie vergeben die Kantonschemiker dem Schweizer Trinkwasser gute Noten. Allerdings lassen die Ergebnisse auch aufhorchen. Denn in über der Hälfte der Trinkwasserproben wurden Pestizide und deren Abbaustoffe festgestellt. Diese Pflanzenschutzmittel und ihre Abbauprodukte lagern sich im Boden ab und belasten Grund- und Trinkwasser noch während Jahren.
Nur die halbe Wahrheit
Die Studie spricht von rund 170'000 Menschen in der Schweiz, die ihr Trinkwasser aus verunreinigten Quellen beziehen. Diese Zahl umfasst alle Stoffe, die das Bundesamt für Veterinärwesen und Lebensmittelsicherheit (BLV) als «relevant» klassifiziert hat. Für diese gilt ein Grenzwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter.
Das ist aber nur die halbe Wahrheit. In unserem Trinkwasser befinden sich weitaus mehr Abbauprodukte von Pestiziden – vom BLV als «nicht relevant» eingestuft und somit ohne Grenzwert. Diese Stoffe kommen im Wasser zum Teil sogar häufiger und konzentrierter vor als die «relevanten». Somit sind von Pestizid-Rückständen über 0,1 Mikrogramm pro Liter weitaus mehr Schweizer betroffen – rund 380'000 Menschen!
EU ist kritischer
Die Kantonschemiker kritisieren: «Für den Vollzug wäre es am einfachsten, wenn es einen Höchstwert gäbe für alle Abbauprodukte. Das heisst, dass man nicht unterscheidet zwischen Relevanz und Nicht-Relevanz», sagt Kurt Seiler, Kantonschemiker SH/AI/AR.
Auch bei der Eawag, dem Wasserforschungsinstitut der ETH, ist man skeptisch. Juliane Hollender, Leiterin Umweltchemie sagt: «Man muss sehr vorsichtig sein, wie man diese Abbaustoffe bewertet. Lieber vorsorgend einmal mehr restriktiv sein, anstatt zu sagen, das ist kein Problem.» Denn: Beim Zerfall der Pestizide entstehen Stoffe, die noch schneller ins Grundwasser gelangen.
Brisant: Manche Stoffe, die der Bund als «nicht relevant» einstuft, gelten in der EU als problematisch. Beispiel: Chlorotalonil. Der häufigste Abbaustoff mit der Bezeichnung R471811 gilt in der Schweiz als «nicht relevant» und muss deshalb gar nicht gemessen werden. Anders in der EU. Weil Chlorothalonil als krebserregend gilt, stuft die Europäische Lebensmittelbehörde EFSA alle Abbaustoffe ebenfalls so ein.
BLV hält an Einstufung fest
Michael Beer, Leiter Abteilung Lebensmittel und Ernährung beim BLV, sagt im Interview mit «Kassensturz»: «Wir haben zwölf Abbauprodukte von Chlorothalonil bewertet, neun als relevant, drei als nicht-relevant. Es gibt noch Abbauprodukte, die wir nicht mal kennen.» Entscheidend sei deshalb, dass für bedenkliche Pestizide die Bewilligung entzogen würde.
Auf die Kritik, man sei zu wenig vorsichtig bei der Bewertung, entgegnet Beer: «Nach unserer Bewertungs-Methode sieht man, dass dieser Stoff mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht kanzerogen ist.»
Für Kantonschemiker Kurt Seiler besteht noch viel Handlungsbedarf: «Es ist sehr wichtig, dass man Stoffe, die in den 70er- und 80er-Jahren zugelassen wurden, sehr schnell neu überprüft und Wissenslücken schliesst.»