Verdingkinder – ein trauriges Kapitel in der Schweizer Geschichte. Tausende Kinder wurden den Eltern weggenommen und bei Bauern fremdplatziert.
Auch die heute 89-jährige Lily M. war ein Verdingkind. Nachdem der Vater starb und die Mutter krank wurde, wurden die fünf Kinder an andere Familien verteilt. Lily kam zur Nachbarsfamilie, zu einem gewalttätigen Pflegevater: «Die Familie war sehr religiös, der Vater Laienpfarrer. Das hat sie aber nicht daran gehindert, mich zu verprügeln», wie sie in der Sendung «Kassensturz» erzählt. Lily fühlt sich vergessen. Kein Mensch habe je nachgefragt, wie es ihr bei der neuen Familie erging.
Kasse fordert Ergänzungsleistungen zurück
An diese Zeit denkt sie nicht gerne zurück. Lange zögerte sie deshalb, ein Gesuch für den Solidaritätsbeitrag einzureichen: «Ich wollte die alten Geschichten nicht mehr ausgraben und aufschreiben.» Da sie aber von der AHV und Ergänzungsleistungen lebt und einen finanziellen Zustupf gut gebrauchen könne, entschied sie sich schliesslich doch dazu, ein Gesuch einzureichen.
Dieses wurde im Frühling 2018 angenommen. Lily M. erhielt den Solidaritätsbeitrag von 25'000 Franken ausbezahlt.
Doch die Freude währte nur kurz. Mit der Abrechnung der Ergänzungsleistungen kam der Schlag ins Gesicht: Wegen der Auszahlung des Solidaritätsbeitrags fordert die Kasse rückwirkend 2731 Franken zurück. Dazu kürzt sie die Rente um die Hälfte auf 220 Franken pro Monat.
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Widerspruch beim Bundesamt für Justiz
Und das, obwohl im Merkblatt für Betroffene vom Bundesamt für Justiz steht: «Ergänzungsleistungen oder Sozialhilfe dürfen wegen der Auszahlung des Solidaritätsbeitrags grundsätzlich nicht gekürzt werden.»
Ein Hinweis zur Ursache der Kürzung findet sich auf einem weiteren Merkblatt für Behörden, ebenfalls ausgestellt vom Bundesamt für Justiz. Dort steht, der Solidaritätsbeitrag werde dem Vermögen angerechnet. Ab einem Vermögen von 37'500 Franken, würden die Ergänzungsleistungen reduziert.
Entspricht nicht dem Zeichen, das gesetzt werden sollte
Robert Blaser – einst selbst von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen – ist Präsident des Vereins Fremdplatziert. Er findet es absurd, dass Betroffene bestraft werden, weil sie gespart haben: «Da ist eine sparsame Frau, die jetzt offenbar zu viel Geld hat, und dann nimmt man ihr das weg. Das kann ja wohl nicht wahr sein!»
SP-Nationalrat Beat Jans setzte sich in der Vergangenheit ebenfalls für Verding- und Heimkinder ein. Auch er kritisiert diese Abzüge: «Wir wollten im Parlament zeigen, dass wir das Unrecht erkannt haben und eine Wiedergutmachung auszahlen. Wenn der Staat diese Wiedergutmachung an einem anderen Ort wieder einfordert, entspricht das sicher nicht dem Zeichen, das wir setzten wollten.»
Jans kann sich nicht vorstellen, dass die Mehrheit der Parlamentarier sich dessen bewusst war. Seiner Meinung nach muss das Gesetz geändert werden. Er will in der Herbstsession einen Vorstoss einreichen, der diesen Missstand korrigieren soll.