Die konsequente Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative wäre das Ende der Personenfreizügigkeit mit der Konsequenz der Kündigung aller bilateralen Abkommen mit der EU. Für die Wirtschaft und ihren Dachverband Economiesuisse ist dies zu riskant.
Heinz Karrer, Präsident von Economiesuisse, erklärt, wovor sich die Wirtschaft fürchtet. Betroffene Parteien seien von Justizministerin Simonetta Sommaruga (SP) zu einem Runden Tisch eingeladen worden und man sei sich in drei Punkten einig gewesen: Rasche Umsetzung mit Planungssicherheit für die Wirtschaft; möglichst nahe bei der Personenfreizügigkeit und eine flexible Umsetzung, um konjunkturelle Schwankungen berücksichtigen zu können.
Knackpunkt «konsequenten Umsetzung»
Karrers Bedenken: «Jetzt hört man plötzlich von einer ‹konsequenten Umsetzung›. Das macht uns Sorgen, weil ‹konsequent› – also ohne Flexibilität, wie sie die Verfassung zulässt – bedeutet, dass es schlechter ist für die Wirtschaft, für Investitionen, für Arbeitsplätze und eine schlechtere Ausgangslage für die Verhandlungen mit der EU.»
Philipp Müller, Präsident der FDP.Liberalen stösst sich daran, wie Karrer «konsequent» interpretiert: «‹Konsequent› bedeutet nichts anderes als ‹korrekt›». Mit der Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative seien in der Verfassung neue Begriffe hinein gekommen, etwa «jährliche Höchstzahlen» bei der Einwanderung, «Kontingente» oder «Schweizervorrang». Und diese Stichworte müssten nun berücksichtigt werden. «Das lässt keinen Spielraum für so abenteuerliche Konstruktionen wie ‹Ventilklausel› oder ‹Richtwerte› zu.»
Gegen eine konsequente Umsetzung kann auch Toni Brunner, Präsident der SVP, nichts haben. «Nein – ich habe aber gemerkt, dass die Parteien ein Wording abgesprochen haben, als alle von einer ‹konsequenten Umsetzung› gesprochen haben.» Das Wording sei ‹konsequente Umsetzung›, aber man gehe dann nach Brüssel, um ein Nein abzuholen, interpretiert Brunner. Im Zusammenhang mit der Abstimmung zur Masseneinwanderung sei immer klar gewesen, dass das Freizügigkeitsabkommen (FZA) mit der EU nachverhandelt werden müsse.
Der europäische Markt und die Schweizer Situation
Die grössten Ängste bei einer Kündigung der bilateralen Verträge sind bei Karrer und Müller der Verlust des freien Zugangs zum extrem grossen Markt Europa und die wirtschaftliche Bedeutung des Handelsvolumens mit den EU-Staaten.
Für Fehr ist hingegen viel wichtiger die Frage, warum die Bürger überhaupt Ja zur Abschottung gesagt haben und zwar vor allem der kleine Prozentsatz, der bisher der Öffnung mit der EU zugestimmt haben. «Wenn wir das Vertrauen des Volkes zurückgewinnen wollen, dann müssen wir wieder Mass halten, sorgfältiger umgehen mit Leuten auf Arbeitsplätzen, mit der Natur und Raumplanung und im Zusammenleben.»
Für Brunner ist klar, warum die Wirtschaftskreise jetzt aufgeschreckt sind: Nämlich, als Bundespräsident Didier Burkhalter (FDP) für 2016 eine Abstimmung über die sogenannte institutionelle Bindung zur EU ankündigte. Das Volk hätte dann die Wahl zwischen bilateralen Verträgen oder Alleingang. Die Stimmbürger hätten gewusst, dass der erste Satz im neuen Verfassungsartikel nicht kompatibel sei mit der Personenfreizügigkeit und dass die Schweiz die Zuwanderung selbstständig steuern wolle.
Fehr ist überzeugt, dass die Stimmbürger nicht über die Vertiefung oder die Auflösung der Beziehung zur EU entschieden hätten. «Eine Mehrheit der Schweiz ist an guten Beziehungen zur EU interessiert.» Aber nur, wenn parallel dazu die soziale Situation dieser Leute in der Schweiz verbessert wird.
An Beispielen mangelt es Fehr nicht: «Es stinkt den KMU, dass neue Unternehmen mit Steuergeschenken in die Schweiz kommen», während die einheimischen Betriebe seit Jahr und Tag Lehrlinge ausbilden und ihre Arbeit machen. Auch Angestellten gehe es gleich, wenn etwa die «Tochter keinen Studienplatz für das Medizinstudium erhalte, aber gleichzeitig 600 Ärzte einwandern müssen, weil es zu wenig gebe». Das wollten die Leute nicht mehr.
Geringer Spielraum oder doch mehr Verhandlungsmacht?
Der Spielraum des Bundesrats bei den Verhandlungen mit der EU ist nicht sehr gross. Für die EU ist die Personenfreizügigkeit unantastbar. Karrer von Economiesuisse sieht die Chance in den bilateralen Abkommen: «Es profitiert ja nicht nur die Schweiz, sondern die EU in grossem Masse natürlich auch. Da besteht ein hohes, gegenseitiges Interesse, dass die bilateralen Abkommen erhalten bleiben».
Eines steht für Karrer fest: Bei den Verhandlungen mit Brüssel werde die Frage sein, ob es Möglichkeiten gebe, zu denen die EU Ja sagen kann, nämlich über die Art der Steuerungssysteme für die Zuwanderung, wie sie die Schweiz kennt. Im Gegenzug zeige sich dann, was der Preis ist, den die EU dafür verlangt.