SRF News: Viele Eritreer flüchten aus ihrem Land. Der Militärdienst ist ein wichtiger Grund. Warum?
Martin Reichlin: Die Desertation aus dem Nationaldienst wird in Eritrea mit fünf und die Wehrdienstverweigerung mit zwei Jahren Haft bestraft. In der Praxis werden diese Strafen häufig von militärischen Vorgesetzten ohne Gerichtsverfahren verhängt. Es kommt oft zu willkürlichen Strafen. Es gibt dokumentierte Fälle von Folter, Exekutionen und von Zwangsarbeit. Diese Strafen drohen auch rückkehrenden Asylsuchenden aus dem Ausland.
Leider fehlen jüngere Berichte, da insbesondere europäische Staaten in den letzten Jahren keine Rückführungen nach Eritrea durchgeführt haben. Auch in der Schweiz ist das die gängige Praxis. Eritreer, die es hierher schaffen, werden nicht zurückgeführt. Es gibt auch keine Anhaltspunkte, dass sich das bald ändern wird. Denn es ist davon auszugehen, dass die Situation in Eritrea immer noch dieselbe ist.
Im Januar hat eine Schweizer Delegation Eritrea besucht und sich vor Ort ein Bild gemacht. Während drei Tagen hat man mit hochrangigen Vertretern des eritreischen Regimes gesprochen. Was war das Ergebnis dieses Besuches?
Das Ziel dieser Sondierungsreise war, den bestehenden Dialog mit Eritrea fortzuführen, neue Erkenntnisse über allfällige interne Reformen der Regierung zu sammeln und Möglichkeiten der Migrationszusammenarbeit zu prüfen. Eine Vertiefung dieser Zusammenarbeit würde aber mittel- und langfristig voraussetzen, dass Eritrea konkrete Schritte unternimmt, um seinen Bürgern grundlegende Rechte zu gewähren.
Kann man sich aufgrund von Gesprächen mit Angehörigen des Regimes überhaupt ein Bild davon machen, wie die Lage im Land ist?
Eritrea gehört schon seit rund einem Jahrzehnt zu den wichtigsten Herkunftsländern von Asylsuchenden in der Schweiz. Dementsprechend grosse Anstrengungen unternimmt die Schweiz auch, um Informationen aus und über diese Länder zu sammeln. Generell kann der Dialog mit Behördenvertretern eines Herkunftsstaates nur Hinweise auf Probleme und mögliche politische Entwicklungen in dem Land geben. Diese Hinweise müssen überprüft und weiterverfolgt werden. Zu einer objektiven Lagebeurteilung gehört aber auch, das Gespräch mit anderen Quellen, etwa UN-Organisationen, Menschenrechtsvertretern oder auch den Eritreern selber in der Schweiz.
Die Eritreer, die vorläufig aufgenommenen sind, bleiben während Jahren in der Schweiz. Sie haben das Recht, in der Schweiz zu arbeiten. Was gibt es hier für Schwierigkeiten?
Es gibt zwei Themenbereiche: Der erste ist die Frage des Zutritts zum Arbeitsmarkt. Vorläufig Aufgenommene müssen ähnlich hohe Hürden überwinden wie Staatsangehörige aus Drittstaaten. Sie müssen ein Bewilligungsverfahren durchlaufen. Das bedeutet administrativen Aufwand für einen potenziellen Arbeitgeber. Gleichzeitig müsste ein Arbeitgeber zehn Prozent des Gehaltes, das er dieser Person zahlt, dem Staat entrichten – im Sinne einer Sonderabgabe. Mit den Massnahmen, die der Bundesrat zur Umsetzung des Zuwanderungsartikels vorgestellt hat, sollen solche Hürden künftig abgeschafft werden.
Der zweite Themenbereich ist die Integration: Ein Grossteil der Eritreer verfügt über eine geringe Schulbildung und über eine niedrige berufliche Qualifikation. Sie haben auch wenig Basiswissen über die Schweiz. Sie kennen etwa weder Funktionsweise des Bildungssystems noch die hiesige Kultur. Sie fangen sozusagen bei Null an, wenn sie in den Arbeitsmarkt hier einsteigen wollen. Das alles sind grosse Hürden, die sie erst überwinden müssen. Eine grosse Integrationsleistung, die sie zuerst erbringen müssen.
Ist das der Grund, warum 90 Prozent der Eritreer Sozialhilfe beziehen?
Zu Anfang haben alle Asylsuchenden, Flüchtlinge, vorläufig Aufgenommene über alle Nationen hinweg, eine fast 100 prozentige Sozialhilfequote. Das ist kein eritreisches Phänomen. Wenn man sich die Sozialhilfequote bei der eritreischen Bevölkerung, die in der Schweiz als ständige Wohnbevölkerung notiert ist, ansieht, dann merkt man: Sie sinkt auf rund 27 Prozent. Also: Je länger sie hier sind, desto besser sind sie in den Arbeitsmarkt integriert.
Das Gespräch führte Anneliese Tenisch.