Was ist der Anlass des Treffens? Spekuliert über einen Besuch von Maros Sefcovic wurde schon im letzten Herbst. Der Vize-Kommissionspräsident, der bei der EU für die Schweiz zuständig ist, wollte die wichtigsten innenpolitischen Player treffen – etwa Sozialpartner und Kantone. Ähnlich ist Sefcovic auch während der Verhandlungen zum Nordirland-Protokoll vorgegangen. Im letzten Herbst kam aber kein Besuch zustande – offenbar, weil Ausseniminister Ignazio Cassis fand, es sei zu früh für ein Treffen auf hoher Stufe.
Jetzt hat Sefcovic Cassis quasi vor vollendete Tatsachen gestellt, in dem er das Referat an der Uni Fribourg ankündigte. Ausserdem arrangierte er ein Treffen mit Parlamentarierinnen und Parlamentariern der Kommission, die für EU-Themen zuständig ist. Und schliesslich kam ein Arbeitsessen zwischen Cassis und Sefcovic hinzu, welches am Mittwochabend stattfindet.
Was bezweckt Sefcovic damit? Kritiker – insbesondere aus der SVP – sagen, Sefcovic misstraue der Schweizer Regierung und umgehe sie, indem er direkt mit Gewerkschaften und Arbeitgebern sprechen wolle. Er wolle mit dem Besuch Druck auf Cassis und den Gesamtbundesrat ausüben, damit es bald zu Verhandlungen kommt.
Aussenpolitikerinnen und Aussenpolitiker mehrerer anderer Parteien halten es für ein gutes Zeichen, dass sich der EU-Vizekommissionspräsident für die verschiedenen Positionen innerhalb der Schweiz interessiert.
Wo stehen die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU denn aktuell? Seit die Schweiz das Rahmenabkommen mit der EU im Frühling 2021 beerdigt hat, laufen keine Verhandlungen mehr. Zuletzt war die Schweizer Staatssekretärin Livia Leu Anfang März für Sondierungsgespräche in Brüssel. Damals haben beide Seiten angekündigt, dass Ende April eine weitere Gesprächsrunde stattfinden soll.
Die Schweiz und die EU wollen mit diesen Sondierungen ausloten, ob neue Verhandlungen zur Weiterentwicklung der bilateralen Abkommen Chancen haben. Halten beide Seiten Verhandlungen für möglich, soll ein Dokument unterzeichnet werden, das wichtige Punkte festlegt, auf die man sich einigen kann.
Kritische Punkte aus Schweizer Sicht sind – ähnlich wie beim Rahmenabkommen – der Lohnschutz, die Unionsbürgerrichtlinie und die staatlichen Beihilfen. Die EU will zudem dem Europäischen Gerichtshof eine möglichst zentrale Rolle eingestehen, während sich die Schweiz hier möglichst viele Ausnahmen ausbedingen will. Parallel zu diesen Sondierungen mit Brüssel laufen auch im Inland Gespräche, unter anderem zwischen Bundesrat Cassis und den Sozialpartnern sowie den Kantonen.
Wie realistisch ist ein baldiger Verhandlungsstart? Derzeit sind die Signale gemischt. Im Frühjahr 2024 wird in der EU gewählt. Je nach Wahlausgang könnte die EU-Kommission danach ganz anders aussehen. Liegt bis im Frühjahr 2024 nichts Konkretes auf dem Tisch, müssten die Unterhändler allenfalls noch einmal bei null anfangen. Derzeit ist ein weiteres Treffen von Staatssekretärin Livia Leu und ihrem Gegenüber in Brüssel angesagt für Ende April. Gleichzeitig soll der Bundesrat aber schon Ende März die nächste Standortbestimmung vornehmen. Dann könnte er allenfalls im Grundsatz beschliessen, dass er ein Verhandlungsmandat anstrebt. Diese Woche ist nach den diversen Treffen von Sefcovic kaum mit grossen Neuigkeiten zu rechnen.