Es war eine denkwürdige Gemeindeversammlung und – unfreiwillig – beste Werbung für die Abschaffung dieser Form der demokratischen Mitbestimmung: Im März 2019 ging im luzernischen Sursee eine Monster-Versammlung über die Bühne: Zwei Abende à sechs Stunden, jeweils bis um ein Uhr morgens.
Direktdemokratische Knochenarbeit war angesagt: die Totalrevision der Ortsplanung. Einsprache um Einsprache, Antrag um Antrag wurden abgehandelt. Mit bis zu knapp 600 Personen im Saal. Das klingt zwar nach viel, entspricht aber nur knapp 8 Prozent der Stimmbevölkerung.
Zu aufwändig, zu teuer und nicht wirklich demokratisch sei die Versammlung gewesen, findet der Surseer GLP-Politiker Mario Cozzio, denn: «Es sind Meinungsentscheide, zu einem Teil sogar Einzelinteressen eingeflossen.»
An der Versammlung wurden komplette Arbeits- und Planungsprozesse über den Haufen geworfen.
Für Cozzio ist klar: Die Gemeindeversammlung hat ausgedient – Sursee mit seinem rund 10'000 Einwohnern braucht ein Gemeindeparlament, gerade für so komplexe Geschäfte wie eine Ortsplanung.
Ganz anders sieht es Susanne Stöckli, Präsidentin der lokalen CVP. Sie befürchtet, dass mit einem Orts-Parlament die Parteipolitik zu stark in den Vordergrund drängt. «Die Gemeindeversammlung ermöglicht es jedem Stimmbürger und jeder Stimmbürgerin, ein Anliegen direkt vorzubringen – unabhängig von der Parteizugehörigkeit.» Stöckli warnt auch vor Mehrkosten.
Das ist einfach so: Ein Parlament wird uns massiv teurer zu stehen kommen als die Gemeindeversammlungen.
Die Diskussion «Gemeindeversammlung oder Gemeindeparlament» ist nicht neu und betrifft längst nicht nur Sursee. Viele grössere Gemeinden in der Schweiz führen sie. Wobei sie dieses Jahr gerade im Kanton Luzern an Aktualität gewonnen hat. In der Agglomerationsgemeinde Ebikon sagte das Volk Ja zur Einführung eines Parlaments – im fünften Anlauf. 2024 soll es losgehen.
In welchen Gemeinden ist ein Parlamentssystem angesagt? Das hänge nicht nur von der Grösse einer Gemeinde ab, sagt Politologe Andreas Ladner von der Uni Lausanne: «Ein Gemeindeparlament funktioniert vor allem dann, wenn es auch aktive Parteien gibt, die die Leute rekrutieren und unterstützen können.» Debatten unter Parteien seien in Parlamenten viel besser zu führen als an Gemeindeversammlungen.
Zudem können Parlamente laut dem Politologen den kommunalen Regierungen besser auf die Finger schauen. «Die parlamentarischen Kommissionen und die Debatten unter den Parteien führen zu einer verstärkten Kontrolle der Verwaltungs- und Exekutivtätigkeit.»
Trotzdem: Auch Gemeindeversammlungen hätten Vorteile, betont Andreas Ladner. Sie seien sehr gut akzeptiert. «Wir sehen zum Beispiel: Wenn eine Gemeindeversammlung über etwas abgestimmt hat, dann wird ihr Entscheid in der Mehrheit der Fälle auch von der Gemeinde getragen.» Deshalb sei es nicht so einfach zu bestimmen, ob eine Gemeindeversammlung oder ein Parlament demokratischer sei, beziehungsweise ob das eine oder andere System die besseren Entscheide fälle.
Ob sich nun auch die Kleinstadt Sursee auf den Weg zu einem Gemeindeparlament macht, ist noch offen. Nach einem Gespräch mit den Ortsparteien hat der Stadtrat angekündigt, das aktuelle System zu überprüfen. Erste Resultate sollen im kommenden September vorliegen. Vorerst also wird es in Sursee weiterhin Gemeindeversammlungen geben. Und diese werden wohl meist nicht so ausufernd verlaufen wie damals an der Monster-Versammlung vor einem Jahr.