Seit bald sechs Monaten ist Alain Berset Generalsekretär des Europarates. Für SRF analysiert er die aktuelle Weltlage und die Rolle des Europarates – und wie er sich vor fünf Jahren fühlte, als die Schweiz ihren ersten Corona-Fall hatte. Das Interview fand noch vor dem Eklat zwischen US-Präsident Donald Trump, seinem Vize James D. Vance und dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski im Weissen Haus statt.
SRF: Die USA hofieren Russland und verhandeln über einen Frieden in der Ukraine, über die Köpfe der Ukraine und Europas hinweg. Der Europarat verteidigt Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das beobachten?
Alain Berset: Alle wollen am Ende Frieden, auch in der Ukraine. Ich war im Dezember das letzte Mal dort. Es ist aber wichtig, dass es ein gerechter Frieden wird.
Alles muss auf den Werten Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte beruhen, nur so können die Lebensbedingungen der Bevölkerungen geschützt werden.
Es kann nicht sein, dass einfach der Stärkere gewinnt. Wir brauchen Regeln, die müssen verhandelt werden, die Menschenrechte müssen dabei im Zentrum stehen.
Aber im Moment passiert genau das Gegenteil: Das Recht des Stärkeren scheint sich durchzusetzen?
Ja, aber ob es wirklich so kommt, werden wir noch sehen. Es gibt aktuell eine grosse Instabilität und Ungewissheit. Es ist unklar, was die neue Administration in den USA wirklich will. Wir müssen flexibel sein und offen für das, was passiert. Aber wir dürfen nie unsere Grundhaltung verlieren: Alles muss auf den Werten Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte beruhen, nur so können die Lebensbedingungen der Bevölkerungen geschützt werden.
Die USA sehen das Problem in Europa. Vizepräsident J.D. Vance ortete in seiner Rede an der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar ein Demokratiedefizit in Europa, einen Rückzug der Meinungsäusserungsfreiheit: Was sagen Sie zu dieser Rede?
Ich war auch an der Konferenz und ich muss sagen, ich habe mehr oder weniger alles erwartet. Aber etwas habe ich nicht kommen sehen: diese Kritik an der Meinungsäusserungsfreiheit in Europa.
Der Europarat ist kein Wellnesscenter.
Ich muss das sagen – das verstehe ich wirklich nicht. Wo ist das Problem? Ich bin unterwegs in Europa, ich sehe Demonstrationen, ich sehe Medienvielfalt, die Leute können frei sprechen. Diese Aussage des Vizepräsidenten ist nicht richtig, ich möchte gerne wissen, wie er dazu kam.
Russland wurde nach Beginn des Angriffskrieges aus dem Europarat ausgeschlossen. Nun sitzt Putin wieder am Verhandlungstisch mit den USA. Müsste Russland wieder aufgenommen werden?
Wissen Sie, der Europarat ist kein Wellnesscenter. Wer Mitgliedsstaat ist, verpflichtet sich der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechten. Ich glaube nicht, dass Russland einfach so zurückkommen kann. Noch ist der Krieg nicht vorbei, es braucht zuerst einmal einen gerechten Frieden.
Themenwechsel: Diese Woche ist es genau fünf Jahre her, seit die Schweiz den ersten Corona-Patienten hatte. Was sind Ihre Erinnerungen an diese Zeit?
Ich erinnere mich noch sehr gut. Ich war zu dieser Zeit in Italien – ich wollte verstehen, was da passiert. Und dann… Es war eine unglaubliche Situation. Sie hat alle hart getroffen. Die ganze Bevölkerung, aber auch die Politik in den Kantonen, im Parlament, im Bundesrat, die Unternehmen.
Es war eine riesige Arbeit. Um ehrlich zu sein, es war brutal. Es gab Momente, da war ich der Erschöpfung nahe, es war definitiv zu viel. Ich hätte vorher nie gedacht, dass ich so viel Druck, so viel Arbeit aushalten kann. Interessanterweise verschwindet dieses Gefühl aber langsam aus den Erinnerungen, das Ganze hat sich intellektualisiert.
Sind Sie heute als Generalsekretär des Europarates ein anderer als damals als Bundesrat?
Ich glaube schon. Ich habe andere Tätigkeiten, eine andere Rolle und ich finde das wirklich fantastisch. Ich bin mit völlig neuen Problemen konfrontiert. So war ich etwa im Kaukasus oder in Georgien. Ich will verstehen, was passiert und versuchen, ein bisschen schweizerische DNA in die Lösungsfindung zu bringen. Aber ja, ich bin definitiv ein anderer.