Eine junge Immobilien-Maklerin beginnt einen neuen Job in einer Agentur in Basel. Im Büro machen die männlichen Mitarbeiter ihr gegenüber anrüchige Bemerkungen. Die Situation ist belastend für sie. Ihr Vorgesetzter aber schreitet nicht ein – im Gegenteil.
Auf einer Geschäftsreise nähert er sich ihr an. Sie blockt ab. Er schickt ihr eine persönliche Postkarte, schickt ein anzügliches Bild von sich. Als sie auf seine Avancen nicht eintritt, kündigt er ihr «aufgrund schlechter Leistungen».
Die Frau wehrt sich und klagt vor der kantonalen Schlichtungsstelle wegen Diskriminierung durch sexuelle Belästigung und diskriminierender Kündigung. Die Stelle kommt zum Schluss: Der Arbeitgeber hat die Frau zu wenig vor den Übergriffen geschützt. Sie erzielt einen Vergleich und bekommt eine finanzielle Entschädigung.
Vorgesetzte belästigen ihre Mitarbeitenden sexuell – und die Arbeitgeber tun zu wenig dagegen. Solche Fälle geschehen in der Schweiz fast täglich, doch die wenigsten Opfer wehren sich juristisch. SRF Data hat 218 rechtskräftig abgeschlossene Fälle aus den letzten 28 Jahren analysiert. Die Fälle basieren auf einer Erhebung der Uni Bern, welche jährlich alle Gerichte und Schlichtungsstellen bezüglich Gerichtsfällen im Bereich Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz abfragt und auf Gleichstellungsgesetz.ch publiziert.
Was vor Gericht landet, ist dabei nur ein Bruchteil der tatsächlich verübten sexuellen Belästigungen, doch die vorliegenden Fälle geben ein Bild, wie in der Schweizer Arbeitswelt mit sexuellen Belästigungen umgegangen wird.
Die meisten Arbeitgeber trafen ungenügende Schutz-Massnahmen
Das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz) ist seit 1996 in Kraft und nimmt die Arbeitgeber in die Pflicht. Sie sollen ihre Arbeitnehmer vor Diskriminierung und sexueller Belästigung schützen – und präventiv Massnahmen treffen, etwa, dass der Betrieb sexuelle Belästigung nicht toleriert, oder dass eine Vertrauensperson als Anlaufstelle geschaffen wird.
Die Analyse von SRF zeigt: Beim grössten Teil der analysierten Fälle (69 Prozent) stellte sich heraus, dass die angeklagten Unternehmen die gesetzlich vorgeschriebenen präventiven Massnahmen im Bereich «Verhinderung von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz» nicht einhielten. Konkret gab es in 150 Fällen konkrete Hinweise in den Gerichtsdokumenten. In 17 Fällen (8 Prozent) wurden die Massnahmen durch den Arbeitgeber eingehalten, bei 51 Fällen (23 Prozent) fanden sich keine Hinweise dazu.
Wenn der eigene Arbeitgeber ungenügende Massnahmen träfe, könne das verheerende Folgen haben, sagt Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt: «Für die Mitarbeitenden heisst das nämlich, dass sie kein Vertrauen haben können, dass, wenn sie einen Vorfall melden, diesem auch nachgegangen wird.
Deshalb werden Belästigungsfälle kaum gemeldet; stattdessen verlassen die Mitarbeiterinnen den Arbeitgeber lieber, als einen Fall zu melden. Das ist verheerend – für den Arbeitgeber und die Arbeitnehmerinnen.»
Vor allem Vorgesetzte sind Täter
Auch wenn bei einer Klage zum Gleichstellungsgesetz der Arbeitgeber im Zentrum steht und oft parallel ein Strafverfahren wegen sexueller Belästigung gegen den Täter läuft, lassen sich aus den Daten doch Schlüsse zur Täterschaft ziehen.
Bei einem grossen Teil der Fälle (44 Prozent) handelte es sich beim Täter um den oder die Vorgesetzte und beinhaltet damit einen klaren Machtmissbrauch. Bei einem kleineren Teil (19 Prozent) handelte es sich um einen Mitarbeitenden. Bei einem weiteren Teil der Fälle (37 Prozent) ist in den Gerichtsdokumenten nichts über die Täterschaft vermerkt.
Für die Expertin Agota Lavoyer ist klar: Sexuelle Belästigung sei immer auch ein Machtmissbrauch: «Macht schützt den Täter. Für die Betroffenen ist es sehr schwierig, eine Belästigung offenzulegen, wenn der Belästiger ein Vorgesetzter ist, denn die betroffene Person steht in einem Abhängigkeitsverhältnis. Gleichzeitig schützt Macht den Täter, weil sich die Firma sagt, dass sie es sich nicht leisten kann, diesen Chef zu entlassen.»
Die meisten Fälle enden in einer Schlichtung
Der allergrösste Teil der Klägerschaft, die ihre Arbeitgeber wegen mangelnden Massnahmen gegen Sexuelle Belästigung anklagten, sind Frauen (93 Prozent). Und: Fast siebzig Prozent der Fälle konnten vor einer Schlichtungsstelle geklärt werden.
Bei einem Grossteil dieser Fälle konnten sich Klägerinnen und Arbeitgeber auf eine Kompensationszahlung von durchschnittlich 10’000 Franken einigen. Dabei kann es sich um Nachzahlungen von geschuldetem Lohn wie auch Schmerzensgeld handeln. In der Zeit von 2000 bis 2020 hat sich die durchschnittliche Summe der finanziellen Entschädigung verdoppelt.
Anlaufstelle für Betroffene von sexuellen Übergriffen am Arbeitsplatz
Doch nicht alle der Fälle können vor einer Schlichtungsstelle geklärt werden. Wenn keine Einigung erzielt werden kann, wird der Fall oft an ein Gericht weitergezogen. Das passiert in rund 20 Prozent der Fälle. Davon gingen in den untersuchten Fällen zu 40 Prozent zugunsten der Anklage und zu 60 Prozent zugunsten der angeklagten Unternehmen aus. Allerdings hat die Zahl der Gerichtsprozesse in den letzten Jahren stark abgenommen.