- 2022 ist die Zahl körperlich und psychisch misshandelter Kinder erneut gestiegen, wie die aktualisierte Kinderschutzstatistik zeigt.
- Demnach haben die 20 daran beteiligten Schweizer Kinderspitäler 1889 Fälle gemeldet.
- Im Vergleich zum Vorjahr sind die Fallzahlen 2022 um 14 Prozent gestiegen, wie die Fachgruppe Kinderschutz der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie mitteilte.
Die erfassten Fälle von Misshandlungen bei Kindern und Jugendlichen sind über die Jahre stetig gestiegen. Das beobachtet auch Georg Staubli, der am Universitäts-Kinderspital Zürich die Kinderschutzgruppe leitet. Es ist eine von 20 solcher Gruppen an den Schweizer Kinderspitälern. Sie kommen zum Zug, wenn eine mögliche Misshandlung vorliegt.
Die Meldungen kämen etwa von Kinderärzten oder Schulen, erklärt Staubli. «Wenn ein Kind mit einer Verletzung zu uns kommt, klären wir beispielsweise ab, woher sie stammt; etwa durch einen Schlag oder durch einen Sturz.» Dabei werde auch auf die Situation der Eltern geachtet. Je nach Schwere des Falls finden die Kinderschutzgruppen eine Lösung mit den Eltern oder es erfolgt eine Meldung an die Behörden.
Eine mögliche Erklärung für die steigenden Fallzahlen ist laut dem Kinderarzt, dass durch mehr Sensibilisierung mehr Fälle erfasst werden. Eine andere Erklärung könnte aber auch eine wachsende Überforderung bei den Eltern sein. «Jobverlust, Stress oder Ängste wegen der Teuerung oder wegen des Ukrainekriegs könnten hier Faktoren sein», sagt Staubli. Das sei aber eine Hypothese. Der effektiven Grund für die steigenden Zahlen lässt sich nicht aus der Statistik lesen.
Gleiche Verteilung wie in Vorjahren
Die Kinderspitäler diagnostizierten in 30 Prozent der Fälle Vernachlässigungen am häufigsten, gefolgt von körperlichen Misshandlungen in 28 Prozent. Psychische Misshandlungen folgten mit 27 Prozent Anteil an dritter Stelle.
Sexuellen Missbrauch stellten die Mediziner bei 14 Prozent der behandelten Kinder fest und knapp 1 Prozent entfiel auf das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Die Verteilung der Misshandlungsformen blieb damit 2022 stabil.
Unter psychische Misshandlungen fällt auch das Miterleben häuslicher Gewalt. Dieses erst zum zweiten Mal erfasste Leid machte knapp die Hälfte der psychischen Misshandlungen aus. Dieses Miterleben ist für Kinder eine extreme Belastung.
«Wenn Eltern zu Hause aufeinander losgehen oder sich verbal abwerten, können Kinder das nicht einordnen. Es nagt an ihrem Selbstwertgefühl, sie ziehen sich etwa zurück oder entwickeln psychische Probleme», erklärt Kinderarzt Staubli. Oft gehe es bei diesen Fällen um heftige Auseinandersetzungen, wo die Polizei eingeschaltet werde.
Mädchen häufiger betroffen
Unverändert waren Mädchen mit 56 Prozent häufiger Opfer von Misshandlungen als Knaben mit 44 Prozent. Beim sexuellen Missbrauch oder dem entsprechenden Verdacht steigt der Mädchenanteil auf knapp 84 Prozent. Ausser Schlägen und ähnlichem sind Mädchen allen Formen der Misshandlung stärker ausgesetzt als Knaben.
Besonders oft wurden auch 2022 sehr junge Kinder Opfer von Misshandlungen. Der Anteil der unter Sechsjährigen liegt bei 44.8 Prozent. Die unter Einjährigen bilden sogar einen Anteil von 18 Prozent. Für zwei von ihnen endeten die Misshandlungen oder die Vernachlässigung tödlich, gleich viele wie im Vorjahr.