«Fremde Richter» hätten künftig das Sagen, wenn die Schweiz mit der EU ein Rahmenabkommen abschliesse. Dieser Vorwurf steht seit Jahren im Raum. Das jetzt ausgehandelte «Schiedsgericht» sollte ihn entkräften, weil darin gleich viele Schweizer Richter wie EU-Richter sitzen würden.
Doch die Analyse des Abkommenstextes zeigt, dass das Schiedsgericht faktisch kaum etwas zu sagen hätte. Denn immer, wenn bei einem Streit EU-Recht betroffen wäre, müsste sich das Schiedsgericht an die Auslegung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) halten.
Wie viel EU-Recht gilt bereits?
Damit stellt sich die Frage, wie gross der Anteil des EU-Rechts in künftigen und bestehenden Abkommen zwischen der Schweiz und der EU ist.
Bei neuen Abkommen könne man davon ausgehen, dass sie vollumfänglich EU-Recht enthielten, sagt Benedikt Pirker, Professor am Institut für Europarecht an der Universität Fribourg. Das Ziel des Rahmenabkommens sei ja, dass die Schweiz in Zukunft relevante Rechtsentwicklungen der EU voll übernehme: «Bei den Abkommen, bei denen es um Marktzugang geht – zum Beispiel beim Elektrizitätsabkommen – wird man sicher die Abkommen dem EU-Recht nachgestalten.»
Fünf Abkommen, die bereits bestehen, sind vom Rahmenabkommen betroffen: Die Abkommen über die Personenfreizügigkeit, den Landverkehr, den Luftverkehr, die Landwirtschaft und die technischen Handelshemmnisse. Staatssekretär Balzaretti sagte kürzlich an einer Medienkonferenz auf die Frage, ob nicht auch in diesen Abkommen die meisten Bestimmungen EU-Recht seien: «Ja. Die Antwort ist Ja.»
Europarechtler Pirker von der Uni Fribourg teilt diese Einschätzung. Auch bei Streitfällen im Bereich der bestehenden Abkommen müsste ein Schiedsgericht also fast immer die EU-Richter anrufen und ihren Entscheid akzeptieren.
Zugespitzt gesagt: Das Schiedsgericht wäre in fast allen Streitfällen nicht viel mehr als eine Durchreiche ohne eigene Entscheidkompetenz.
Viel Einfluss für den EuGH
Mit dem Rahmenabkommen könnte der Europäische Gerichtshof seinen Einfluss in der Schweiz daher massiv ausbauen. Im Umfeld des Bundesrates besteht die Befürchtung, dass Brüssel so zum Beispiel die «Unionsbürgerrichtlinie» durchsetzen könnte.
Sie würde die Ansprüche auf Sozialhilfe von EU-Bürgern massiv erweitern, Ausschaffungen erschweren oder allen EU-Bürgern das Recht garantieren, nach fünf Jahren Aufenthalt dauerhaft hier bleiben zu können. Heute gilt nur das nur für die Hälfte der EU-Staaten.
Dass die EU die «Unionsbürgerrichtlinie» eins zu eins durchsetzen könnte, glaubt Europarechtler Pirker zwar nicht. Aber: «Es könnte sein, dass einzelne Aspekte über den EuGH hinübergetragen würden.»
Das gleiche gilt für die flankierenden Massnahmen zum Schutz der Schweizer Löhne. Auch hier könnte die EU via den EuGH das Schweizer Schutzniveau auf das viel tiefere Niveau der EU herabsetzen. Deshalb sind die Gewerkschaften kategorisch gegen das Rahmenabkommen.
Die Schweiz ist am kürzeren Hebel
Theoretisch könnte sich die Schweiz zwar entscheiden, einzelne Entscheide des EuGH nicht umzusetzen. Doch sieht das Rahmenabkommen in diesem Fall Ausgleichsmassnahmen vor, die Brüssel verhängen dürfte. Es wäre der EU gar erlaubt, das betroffene Abkommen zur Strafe zu kündigen, was – weil alle Abkommen durch eine Guillotineklausel miteinander verbunden sind – subito den Wegfall aller Marktzugangsabkommen zur Folge hätte.