Pro-palästinensische Proteste wühlen die USA, Deutschland und die Schweiz auf: Diese seien teils problematisch, kritisiert eine Reihe von jüdischen Hochschullehrenden aus der Schweiz, Deutschland und Österreich. Einer davon ist der forensische Psychologe und Extremismusexperte Jérôme Endrass.
SRF News: Wie erleben Sie die Stimmung an den Universitäten in den letzten Monaten?
Jérôme Endrass: Es gab eine deutliche Zunahme von antisemitischen Vorfällen an deutschen Universitäten in unterschiedlichen Fachbereichen. Ich kenne viele besorgte Kolleginnen und Kollegen, die merken, dass die Stimmung gekippt ist – in eine Richtung, die aus ihrer Sicht nicht mehr sicher sei.
Das hat uns dazu bewogen, darauf hinzuweisen, dass wir an einem kritischen Punkt sind, an dem sich die Situation weiter zuspitzen kann, sodass es für jüdische Studierende an deutschen Universitäten ungemütlich wird.
Was genau passiert an deutschen Universitäten?
Antisemitische Haltungen äussern sich teilweise darin, dass Personen direkt angegangen werden oder dass Studierende daran gehindert worden sind, Kurse zu besuchen. Es hat sich allgemein eine aufgeheizte Stimmung ausgebreitet, die dazu geführt hat, dass es Schmierereien und Sprayereien gegeben hat, so zum Beispiel an der Uni Konstanz, an der ich tätig bin. Es herrscht eine leicht bedrohliche Grundstimmung. Und zwar deutschlandweit.
Kritik am Krieg ist selbstverständlich kein Antisemitismus.
Woran machen Sie das fest?
Gemäss einer von Kollegen der Uni Konstanz lancierten Befragung, die nach dem 7. Oktober durchgeführt worden ist, berichtet jeder dritte jüdische Studierende von Diskriminierungserfahrung. Gleichzeitig sehen wir, dass ein Viertel der Studierenden Verständnis oder Sympathien für die Terroranschläge der Hamas hat.
Ist Kritik am Krieg in Gaza automatisch antisemitisch?
Kritik am Krieg ist selbstverständlich kein Antisemitismus. Es gibt viele zionistische Juden und patriotische Israelis, die den Krieg kritisieren. Das ist kein Problem. Ich denke, es geht um die Art und Weise, wie man die Kritik äussert. Wenn die Kritik so vorgebracht wird, dass sich Jüdinnen und Juden eingeschüchtert fühlen, oder dass damit das Existenzrecht von Israel aberkannt wird, dann wird es problematisch.
Sie haben die Situation in Deutschland dargestellt. Wie würden Sie die Situation in der Schweiz beschreiben?
In der Schweiz ist vieles anders, ich erlebe die Situation in der Schweiz ruhiger. Ich muss zwar sagen, ich bin weniger stark vertreten in der schweizerischen Hochschullandschaft. Aber auch hier gab es diese Zwischenfälle, bei denen man festgestellt hat; da gibt es eine Form der Kritik an Israel, die ins Antisemitische kippt. Diese wird von Studierenden und anderen Universitätsangehörigen als unangenehm wahrgenommen.
Wie beurteilen Sie die Aktion in Lausanne?
Problematisch. Ich finde es dann problematisch, wenn es die Handlungsschwelle überschreitet. Ich würde es auch unangemessen finden, wenn jüdische Studierende etwas besetzen würden. Die Universität sollte der Ort sein, wo man mit Meinungen, mit Ideen überzeugt und nicht besetzt.
Die Studierenden fordern, die Beziehungen zu israelischen Unis abzubrechen. Wie ordnen Sie das ein?
Wenn Sie fordern, dass es mehr Kontakte zu palästinensischen Universitäten geben soll, dann ist das ein legitimes Anliegen. Problematisch wird es, wenn Juden boykottiert werden sollen, sprich kein Kontakt mehr zu israelischen Universitäten gepflegt werden soll. Das ist dann eindeutig eine antisemitische Forderung.
Das Gespräch führte Daniel Glaus.