Tränen aus heiterem Himmel, Müdigkeit ohne Ende, Nächte ohne Schlaf und Träume: Zwei Drittel der Schweizerinnen und Schweizer erleben in ihrem Leben mindestens einmal eine Phase, in der es ihnen psychisch nicht gut geht, und zwar über eine längere Zeit. Das zeigt eine Umfrage zur psychischen Gesundheit in der Schweiz, die die Stiftung Pro Mente Sana präsentiert hat.
Die Pensionierten sind gemäss der Umfrage am zufriedensten. Sie klagen am wenigsten darüber, dass es ihnen psychisch nicht gut geht. Anders sieht es bei der arbeitenden Bevölkerung aus, bei den 18- bis 55-Jährigen. Sie nennen hauptsächlich Überlastung und Stress als Ursache für ihr Unwohlsein, und auch zwischenmenschliche Konflikte schlagen ihnen auf die Stimmung.
Leistungsdruck führt zu Überforderung
Sie sei nicht sonderlich überrascht von diesen Ergebnissen, sagt die St. Galler Gesundheitsdirektorin Heidi Hanselmann: «In unserer Gesellschaft sind wir stark auf Leistung ausgerichtet.» Am Arbeitsplatz werde sehr viel verlangt, in der Schule ebenfalls immer mehr, ebenso im Bereich der Freizeit. «Das führt in der Kombination dann dazu, dass sich viele Menschen überfordert fühlen.»
Die Betroffenen wollen über ihre Situation reden. Auch das zeigt die Studie. Sie wollen, dass ihnen jemand zuhört, dass sie ernst genommen werden. Zwei Drittel der Befragten vertrauen sich ihren Partnern oder einer engen Freundin an. Deutlich weniger als Ansprechpersonen genannt werden Eltern oder Ärzte.
Und fast nie werde am Arbeitsplatz – mit der Chefin oder den Arbeitskollegen – über das psychische Wohlbefinden geredet, sagt Roger Staub von Pro Mente Sana: «Die Studie zeigt, dass viele Angst haben davor, als schwach, labil oder nicht leistungsfähig zu gelten. Deshalb wäre es gut, wenn am Arbeitsplatz Leistungsfähigkeit besprechbar würde.» Dieses «Du musst 100 Prozent oder mehr leisen können, sonst gehörst du nicht dazu» müsse man brechen.
Vermeintlich gut gemeinte Ratschläge
Aber psychische Probleme seien in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabu, so Staub. Viel eher werde in der Schweiz über körperliche Gebrechen geredet als über die geistige Gesundheit. Mit der Kampagne «Wie geht's Dir?» will Pro Mente Sana dieses Tabu aufbrechen. Staub erklärt, wie das gehen soll.
«Wir alle fragen einmal am Tag jemanden ernsthaft, ‹wie geht es dir?›, und zeigen dieser Person, dass wir es ernst meinen und mit einer Antwort wie ‹mir geht es nicht so gut›, umgehen können, ohne mit schnellen Ratschlägen zu kommen.» Als Beispiel nennt Staub Phrasen wie «das geht schon vorbei», «streng dich ein bisschen mehr an» oder «das wird von selbst besser».
Schweigen macht erst recht krank.
Laut einer Erhebung der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften verursachen psychische Leiden in der Schweiz Kosten von jährlich fast sieben Milliarden Franken – das ist über ein Zehntel der Gesamtgesundheitskosten.
Gesundheitsdirektorin Heidi Hanselmann ist überzeugt: Das Engagement der Kantone für die Kampagne ist eine gute Investition: «Aus unserer Sicht lassen sich so Kosten sparen.» Das wäre dann ein angenehmer Nebeneffekt der Kampagne. Das Hauptziel sei aber, dass über psychische Probleme nicht mehr geschwiegen werde, so Hanselmann, denn Schweigen mache erst recht krank.