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Syrische Gemeinde der Schweiz Syrer zwischen unermesslicher Freude und grosser Verunsicherung

Der Sturz des Assad-Regimes wühlt die syrische Diaspora weltweit auf. Drei nachdenkliche Stimmen aus der Schweiz.

Nach dem Sturz des Assad-Regimes steht Syrien vor einem neuen Kapitel in seiner bewegten Geschichte. Das überwältigt seit Tagen auch die rund 28'000 Menschen aus Syrien in der Schweiz. Die Freude über das Ende des Gewaltregimes teilen sie. Doch in die Hoffnung mischen sich auch Sorgen und Ängste.

Ich habe am Wochenende viel geweint, als ich sah, wie Gefangene aus dem Saidnaya-Gefängnis in Damaskus entlassen wurden.
Autor: Sahér Aljamus Syrischer Flüchtling, Englischlehrerin und Journalistin, Bern

Sahér Aljamus ist vor allem müde. Erschöpft von all den Emotionen, die sie in den vergangenen Tagen durchlebt hat: «Ich denke, viele Leute in Syrien wie auch in der Diaspora in der Schweiz und Europa haben nicht gut geschlafen. Ich habe am Wochenende viel geweint, als ich sah, wie Gefangene aus dem Saidnaya-Gefängnis in Damaskus entlassen wurden.»

Sahér Aljamus und der Traum von freien Wahlen

Sahér Aljamus ist 46-jährig, Mutter von drei Kindern und wohnt in Bern. Vor neun Jahren kam sie aus Syrien in die Schweiz. Sie wäre in diesen Tagen gerne vor Ort in ihrem Heimatland gewesen: «Um diese grosse Freude zu sehen, die die Herzen der Syrerinnen und Syrer erfasst hat.» 

Kundgebung.
Legende: Sahér Aljamus in Zürich: Gerne hätte sie in der Heimat mitgefeiert: Kundgebung in Damaskus am zweiten Tag des Siegs über das Assad-Regime. Keystone/AP/Hussein Malla

Für Sahér Aljamus, die in Syrien Englisch unterrichtete und als Journalistin arbeitete, ist klar, was ihr Heimatland jetzt dringend braucht für eine bessere Zukunft: «Viel Weisheit, um sich auf Gesetze zu einigen, die alle Menschen schützen. Es braucht freie und faire Wahlen, in denen das Volk seinen Präsidenten frei bestimmen kann und nicht durch Angst.»

Malek Ossi und die grosse Angst der Kurden im Norden

Weniger hoffnungsvoll blickt Malek Ossi in sein Heimatland. Der 32-Jährige wohnt heute in Zürich und arbeitet beim Verein Solinetz. Geboren ist er in einem kurdischen Gebiet im Norden Syriens. Auch er ist vor neun Jahren in die Schweiz geflohen. Zwar sagt auch Malek Ossi: «Ich bin sehr froh und sehr glücklich, wie alle anderen, dass das Regime weg ist. Wir haben jahrelang darunter gelitten. Millionen Menschen sind vertrieben worden und viele sind verschwunden und ums Leben gekommen.»

Gerade für die Kurdinnen und Kurden ist die Lage heute gefährlicher und unberechenbarer als vor dem Sturz des Assad-Regimes.
Autor: Malek Ossi Syrischer Kurde, Co-Geschäftsleiter bei Solinetz Zürich

Doch bei Malek Ossi folgt ein grosses Aber. Gerade für die Kurdinnen und Kurden in Syrien sei die Lage heute gefährlicher und unberechenbarer als vor dem Sturz des Assad-Regimes: «Es herrscht Angst und Unsicherheit. Meine Verwandten und Bekannten und Kontakte sind eher in Nordsyrien unterwegs und zuhause. Sie machen sich grossen Sorgen, wie es sich weiterentwickelt.»

Auch Malek Ossi hofft auf Frieden und Demokratie in Syrien – doch dieser Prozess brauche Zeit, viel Zeit: «Ich bin deshalb schon vorsichtig mit der Hoffnung. Auch wenn ich mich damit unter Syrerinnen und Syrern hier unbeliebt mache und man mir als Kurden Pessismus vorwirft. Aber es geht um Millionen Menschen, die jetzt wirklich gefährdet sind und die darf man hier nicht einfach ignorieren.» Eine Rückkehr in die kurdischen Gebiete im Norden sei zurzeit ausgeschlossen.

Tawfik Chamaa und das grosse Fest mit der Familie

Ganz anders die Lage des Arztes Tawfik Chamaa. Er war bereits Ende der 1970er-Jahre in die Schweiz nach Genf geflohen und plant jetzt gerade eine Reise nach Syrien, wie er im Westschweizer Radio RTS erklärt: «Natürlich werde ich nach Syrien reisen. Ich suche gerade Tickets und mache dann ein grosses Fest mit der Familie, die in Syrien geblieben ist.»

«Das ist ein historischer Moment, um auch darüber zu sprechen, wie die Flüchtlinge zurückkehren können.
Autor: Tawfik Chamaa Syrischer Flüchtling, Arzt in Genf

Für einen Besuch nach Syrien – ja. Aber für eine endgültige Rückkehr sei es zu früh. Nach 13 Jahren Bürgerkrieg brauche es zunächst ein riesiges Wiederaufbauprogramm für Syrien, so Tawfik Chamaa: «Das ist ein historischer Moment, um auch darüber zu sprechen, wie die Flüchtlinge zurückkehren können. 70 Prozent der Infrastruktur sind zerstört. Es gibt keine Elektrizität, kein Trinkwasser. Die Städte sind zerstört wie Stalingrad nach dem Zweiten Weltkrieg.»

Echo der Zeit, 09.12.2024, 18:00 Uhr

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