Innert knapp drei Monaten die zweite Messerattacke mit mutmasslich islamistischem Hintergrund: nach der Tötung eines jungen Mannes in Morges (VD) Mitte September gestern der Angriff in einem Einkaufszentrum in Lugano mit zwei verletzten Frauen. Es sind nach 2011 – als in Olten eine Paketbombe einer linksterroristischen Gruppe aus Italien bei Swissnuclear explodierte und zwei Frauen verletzte – die ersten Terroranschläge in der Schweiz. Und in jüngerer Zeit die ersten mit dschihadistischem Hintergrund. Diesen Herbst, so scheint es, ist der islamistische Terrorismus zurück in Europa: Dresden, Paris, Wien.
Saat der Terroristen hält sich hartnäckig
Auch wenn die Terrororganisation «Islamischer Staat» in Syrien und Irak militärisch zurückgedrängt ist und ihr selbsternanntes Kalifat verloren hat, so stellt sich die Saat, die der IS in einer bisher wohl beispiellosen Propagandakampagne beinahe weltweit gestreut hat, heute als äusserst robuste Pflanze heraus. Dass die Schweiz nicht davor gefeit ist, dem scheinen sich die Behörden schon länger bewusst zu sein. Dazu passt, dass die Direktorin von Fedpol, Nicoletta della Valle gestern Abend sagte: «Dieser Angriff überrascht mich nicht». Seit 2015 stuft der Nachrichtendienst des Bundes NDB die Terrorgefahr in der Schweiz als «erhöht» ein, geprägt sei die Terrorgefahr vor allem durch Anhänger und Anhängerinnen des IS. Nach letztem Stand figurieren 57 Personen auf der NDB-Liste von Risikopersonen.
Dazu zählte gemäss SRF-Recherchen – zumindest zeitweise – auch die mutmassliche Täterin von Lugano. Sie versuchte, wie das Fedpol heute Vormittag bestätigte, 2017 zum IS nach Syrien zu reisen. Sie hatte sich über soziale Medien in einen Kämpfer dort verliebt und wollte ihn treffen. Weiter als in die Türkei schaffte die Tessinerin damals nicht. Die türkischen Behörden hielten die Frau an und schickten sie in die Schweiz zurück.
Spätestens seit damals ist sie den Schweizer Behörden bekannt. Strafrechtlich relevante Vergehen konnten ihr offenbar nicht nachgewiesen werden. Jedoch wurde sie in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen.
Kalifat besiegt – Ideologie nicht
Der Fall zeigt, wie lange sich eine ideologische Prägung halten und eine Organisation – in diesem Fall der IS als Terrorgruppe mit selbst beherrschtem Territorium – überleben kann. Das Kalifat mag besiegt sein, die Ideologie ist es offensichtlich nicht. Wie nah die Frau mit IS-Führungskräften verbunden war und welchen Einfluss auf die Tat allenfalls der IS-Kämpfer hatte, in den sie sich verliebte, werden die Ermittlungen ergeben müssen. Doch das ist aus Sicht des IS letztlich nicht entscheidend – entscheidend ist der Fakt, dass sich offensichtlich noch immer Anhängerinnen und Anhänger im Westen zu Terrorattacken berufen fühlen und den IS am Leben halten.
Wie schon im Fall der Attacke von Morges (VD) kommen erneut Hinweise dazu, dass die heute 28-jährige Frau womöglich psychisch gestört sei. Was das heisst, und von welchem Grad einer psychischen Störung ausgegangen werden muss, wird sich im Detail klären müssen. Das bedarf eines spezialisierten psychiatrischen Gutachtens und dürfte einige Zeit in Anspruch nehmen. Sollte sie nicht für komplett schuldunfähig erklärt werden – beispielsweise aufgrund einer Schizophrenie –, so gehört auch das gerade eben zur Bedrohungslage, wie sich heute präsentiert. Das macht die Lage umso unberechenbarer: Personen, die sowohl eine Radikalisierung aufweisen als auch psychische Probleme haben, sind äusserst schwierig in ihrer Gefährlichkeit einzuschätzen.