Im Zentrum der Tessiner Gesamterneuerungswahlen steht auch dieses Mal die Regierungsratswahl. Die Ausgangslage sei dabei sehr atypisch, sagt der Politgeograf Oskar Mazzoleni. «Normalerweise ist der Tessiner Wahlkampf hitzig. Dieses Mal nicht – zumindest bis jetzt nicht.»
Dank Listenverbindungen sähen sich die bisherigen Regierungsparteien abgesichert, ihre Mandate zu behalten. Deshalb gebe es keinen Wahlkampf von ihrer Seite.
SVP will einen Regierungssitz
Nicht in der Regierung vertreten ist die SVP, die im Tessin bloss der kleine Bruder der Rechtsbewegung Lega dei Ticinesi darstellt. Sie hat mit der Lega eine Listenverbindung, ist im Gegensatz zu dieser – sie stellt zwei Regierungsmitglieder – aber nicht in der fünfköpfigen Tessiner Regierung vertreten. Die SVP muss also nicht ihre Macht absichern, deshalb macht sie als einzige Wahlkampf.
Wir wollen in die Regierung – auf wessen Kosten, entscheidet das Stimmvolk.
Doch auf wessen Kosten könnte die SVP einen Regierungssitz ergattern? «Wir greifen niemanden an. Wir wollen in die Regierung – auf wessen Kosten, entscheidet das Stimmvolk», sagt dazu SVP-Regierungsratskandidat Piero Marchesi. Dass die SVP den Sprung in die Tessiner Regierung schafft, ist allerdings eher unwahrscheinlich.
Diskussion um verwaisten Ständeratssitz
Am ehesten macht die SVP Wahlkampf auf Kosten der Sozialdemokraten. Denn die Tatsache, dass der amtierende SP-Regierungsrat abtritt und die derzeitige Tessiner Ständerätin Marina Carobbio gute Chancen auf seinen Sitz hat, sorgt im Tessin für Diskussionen.
Das kantonale Gesetz sagt nämlich, es brauche eine Ersatzwahl: Der frei werdende SP-Ständeratssitz darf also nicht bis zu den nationalen Wahlen im Herbst frei bleiben.
Das würde bedeuten, dass das Tessiner Stimmvolk nach Carobbios Wahl in den Regierungsrat im April im Juni ein weiteres Mal an die Urne gerufen würde, um ihre Nachfolgerin oder ihren Nachfolger im Ständerat zu wählen – mit möglichem 2. Wahlgang im September. Das sei unzumutbar, teuer und würde der Politikverdrossenheit Vorschub leisten, wird im Tessin kritisiert.
SVP nutzt Diskussion als Schaufenster
Doch wie das Vakuum gefüllt werden könnte, wissen die Politiker bislang nicht. Vor allem die SVP findet es inakzeptabel, dass Marina Carobbio nicht vorzeitig aus dem Ständerat zurücktritt. Die Partei wollte das kantonale Wahlgesetz so ändern, dass eine amtierende Ständerätin gar nicht erst für die Regierung kandidieren kann. Dieser Antrag kam aber im Parlament nicht durch.
Die Frage nach der Nachfolge Carobbios ist für die SVP ein gefundenes Fressen.
Dass sich gerade die SVP derart mit diesem Thema beschäftigt, sei kein Zufall, sagt Politgeograf Mazzoleni. «Die SVP kann so weiter polarisieren.» Denn die Volkspartei habe bisher keine anderen Themen gefunden. «Die Frage nach der Nachfolge Carobbios ist für die SVP ein gefundenes Fressen.»
Es sei gut möglich, dass die SVP von der ganzen Aufregung rund um die Ständeratsfrage profitiere, sagt Mazzoleni. Denn die Partei werde durch das Thema sichtbarer. Die SVP will im Tessin weiterwachsen, und es sei realistisch, dass das auch passiere – wenn eben auch unklar ist, auf wessen Kosten.
Fest steht immerhin, dass dem Tessin in diesem Jahr, mit bis zu vier Urnengängen ein Wahljahr par excellence bevorsteht.