Zum Inhalt springen

Teure Überversorgung «Rund ein Drittel gewisser medizinischer Eingriffe ist unnötig»

Überflüssige Therapien kosten viel und können der Gesundheit schaden. Eine neue Weiterbildung soll das ändern.

Wer mit Beschwerden bei der Hausärztin sitzt, wünscht sich etwas Handfestes: eine Diagnose, eine Blutuntersuchung oder zumindest ein Medikament. Doch nicht alles ist sinnvoll: «Bei gewissen Untersuchungen und Eingriffen sind bis zu einem Drittel unnötig», sagt Stefan Neuner-Jehle, Co-Leiter des Zentrums für Hausarztmedizin und Community Care an der Universität Luzern.

Häufig überflüssig seien etwa das Messen von Entzündungs- oder Cholesterinwerten, das Verschreiben von Vitamin-D-Präparaten oder Säureblockern und Operationen an der Schulter oder dem Meniskus. Im schlimmsten Fall schadeten diese Behandlungen sogar. Etwa, wenn es bei einer unnötigen Operation zu Komplikationen kommt.

Gefährlich – und teuer

Überversorgung gefährdet aber nicht nur die Gesundheit, sie ist auch teuer. Wie viel Geld sie jedes Jahr verschlingt, ist schwer messbar. Laut Schätzungen sind es jedoch mehrere Milliarden Franken.

Eine Frau nimmt einer anderen Frau eine Blutprobe.
Legende: Ist die Blutuntersuchung wirklich notwendig? Diese Frage werde zu selten gestellt, finden Fachpersonen. Keystone/Christian Beutler

Die Universität Luzern will hier gegensteuern. Mit einer neuen Weiterbildung möchte sie junge Fachkräfte sensibilisieren. Und zwar nicht nur angehende Ärztinnen und Ärzte, sondern auch Pflegefachpersonen oder Hebammen. So soll der Austausch zwischen den Fachbereichen gefördert werden.

Falsche Anreize und hohe Erwartungen

Das sei eine begrüssenswerte Initiative, findet der Gesundheitsökonom Heinz Locher. Denn: «Das Schweizer Gesundheitswesen hat viele Anreize, die Überversorgung fördern.» Fachpersonen etwa würden für Eingriffe und Untersuchungen bezahlt und nicht dafür, auf diese zu verzichten. Auch fehle es an elektronischen Patientendossiers, sodass Untersuchungen unnötig doppelt durchgeführt würden.

Einer Patientin zu erklären, weshalb keine Laboranalyse nötig ist, braucht Fingerspitzengefühl.
Autor: Stefan Neuner-Jehle Zentrum für Hausarztmedizin, Universität Luzern

Hinzu komme, dass es sich viele Leute nicht leisten können, krank zu sein: «Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stehen unter dem Druck, rasch wieder produktiv zu werden», so Locher. Auch die Ansprüche der Prämienzahlerinnen und Prämienzahler sei hoch, ergänzt Stefan Neuner-Jehle: «Sie haben das Gefühl, dass sie eine Abklärung zugute haben. Sie haben immer ins System einbezahlt und wollen nun die maximale Betreuung.»

Menschen in weisser Arbeitskleidung beugen sich über Akten.
Legende: Junge Pflegekräfte sollen sich vermehrt trauen, den Nutzen von Behandlungen zu hinterfragen. Keystone/Gaetan Bally

Die beste Behandlung sei jedoch nicht zwingend jene, die alle Optionen ausschöpfe. In der neuen Weiterbildung werde deshalb der kritische Blick geschult. Ebenso wichtig seien aber auch kommunikative Fähigkeiten: «Einer Patientin zu erklären, weshalb keine Laboranalyse nötig ist, braucht Fingerspitzengefühl», sagt Neuner-Jehle.

Eine Weiterbildung allein reiche natürlich nicht aus, um die Überversorgung in der Medizin zu stoppen. Zu vielschichtig seien die Gründe dafür. Aber: Sie könne einen Mentalitätswandel unterstützen – weg vom medizinisch Machbaren, hin zum medizinisch Sinnvollen.

Weiterbildung zur Vermeidung von Über­versorgung

Box aufklappen Box zuklappen

Am Zentrum für Hausarztmedizin und Community Care der Universität Luzern findet im Herbst 2025 erstmals eine Weiterbildung zum Thema Überversorgung statt.

Das Programm richtet sich an Gesundheitsfachkräfte bis 30 Jahre. Etwa an Masterstudierende der Medizin und Pflege, Personen im Anerkennungsjahr zur Hebamme sowie Assistenzärztinnen und -ärzte, Pflegefachpersonen und Hebammen.

Bewerbungen «sur dossier» sind in Ausnahmefällen möglich.

Heute Morgen, 31.1.2025, 6 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel