Wer mit Beschwerden bei der Hausärztin sitzt, wünscht sich etwas Handfestes: eine Diagnose, eine Blutuntersuchung oder zumindest ein Medikament. Doch nicht alles ist sinnvoll: «Bei gewissen Untersuchungen und Eingriffen sind bis zu einem Drittel unnötig», sagt Stefan Neuner-Jehle, Co-Leiter des Zentrums für Hausarztmedizin und Community Care an der Universität Luzern.
Häufig überflüssig seien etwa das Messen von Entzündungs- oder Cholesterinwerten, das Verschreiben von Vitamin-D-Präparaten oder Säureblockern und Operationen an der Schulter oder dem Meniskus. Im schlimmsten Fall schadeten diese Behandlungen sogar. Etwa, wenn es bei einer unnötigen Operation zu Komplikationen kommt.
Gefährlich – und teuer
Überversorgung gefährdet aber nicht nur die Gesundheit, sie ist auch teuer. Wie viel Geld sie jedes Jahr verschlingt, ist schwer messbar. Laut Schätzungen sind es jedoch mehrere Milliarden Franken.
Die Universität Luzern will hier gegensteuern. Mit einer neuen Weiterbildung möchte sie junge Fachkräfte sensibilisieren. Und zwar nicht nur angehende Ärztinnen und Ärzte, sondern auch Pflegefachpersonen oder Hebammen. So soll der Austausch zwischen den Fachbereichen gefördert werden.
Falsche Anreize und hohe Erwartungen
Das sei eine begrüssenswerte Initiative, findet der Gesundheitsökonom Heinz Locher. Denn: «Das Schweizer Gesundheitswesen hat viele Anreize, die Überversorgung fördern.» Fachpersonen etwa würden für Eingriffe und Untersuchungen bezahlt und nicht dafür, auf diese zu verzichten. Auch fehle es an elektronischen Patientendossiers, sodass Untersuchungen unnötig doppelt durchgeführt würden.
Einer Patientin zu erklären, weshalb keine Laboranalyse nötig ist, braucht Fingerspitzengefühl.
Hinzu komme, dass es sich viele Leute nicht leisten können, krank zu sein: «Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stehen unter dem Druck, rasch wieder produktiv zu werden», so Locher. Auch die Ansprüche der Prämienzahlerinnen und Prämienzahler sei hoch, ergänzt Stefan Neuner-Jehle: «Sie haben das Gefühl, dass sie eine Abklärung zugute haben. Sie haben immer ins System einbezahlt und wollen nun die maximale Betreuung.»
Die beste Behandlung sei jedoch nicht zwingend jene, die alle Optionen ausschöpfe. In der neuen Weiterbildung werde deshalb der kritische Blick geschult. Ebenso wichtig seien aber auch kommunikative Fähigkeiten: «Einer Patientin zu erklären, weshalb keine Laboranalyse nötig ist, braucht Fingerspitzengefühl», sagt Neuner-Jehle.
Eine Weiterbildung allein reiche natürlich nicht aus, um die Überversorgung in der Medizin zu stoppen. Zu vielschichtig seien die Gründe dafür. Aber: Sie könne einen Mentalitätswandel unterstützen – weg vom medizinisch Machbaren, hin zum medizinisch Sinnvollen.