Drohungen mit Worten oder Fäusten sind im Gesundheitswesen keine Seltenheit. Sascha Bättig kennt diese Gewalt. Der Arzt im Akut- und Notfallbereich erinnert sich an einen Fall, als er den Angehörigen mitteilen musste, dass eine Patientin trotz aller Bemühungen verstorben war: «Ich habe das schon häufig gemacht und bin nicht so schlecht darin, würde ich sagen. Aber die Angehörigen waren im Gespräch in einem völligen Ausnahmezustand. Sie haben gegen die Wand geschlagen, haben mir einen Stuhl angeworfen und ich musste fluchtartig das Zimmer verlassen.»
Man hat das Gefühl, dass man selber versagt, etwas falsch gemacht hat.
Klassisch bei Gewalterfahrungen: Arzt Bättig sucht den Fehler bei sich selber: «Man hat das Gefühl, dass man selber versagt, etwas falsch gemacht hat. Dass man zu wenig empathisch war oder falsch kommuniziert hat, statt klar zu sagen, da hat jemand eine rote Linie überschritten.»
Unispital Basel: mehr als zwei Bedrohungssituationen pro Tag
Patientinnen und Angehörige, die drohen, spucken, pöbeln und schlagen: Die rote Linie werde häufig überschritten, sagt Bättig. Wie viele Gesundheitsmitarbeitende betroffen sind, weiss man nicht. Es fehlen die Zahlen.
In grösseren Spitälern sorgen mittlerweile Sicherheitsdienste für den Schutz der Ärztinnen und Pfleger. So auch im Universitätsspital Basel. Von dort heisst es: «Die Hemmschwelle gegenüber dem Sicherheitspersonal ist weiter gesunken. Nebst dem Notfallzentrum stellen wir immer mehr Eskalationen in den Bettenstationen fest. Bedrohungssituationen, die ein Einschreiten erfordern, gibt es am Unispital Basel übers Jahr gesehen mehr als zwei pro Tag. Die Zahl hat sich in den letzten drei Jahren verdoppelt.»
Thema ist nicht neu, war aber lange ein Tabu
90 Prozent der Gesundheitsmitarbeitenden sagen, sie hätten während ihres Berufslebens psychische oder physische Gewalt erlebt. Diese Zahl kennt Sabine Hahn. Die Professorin für Pflege forscht auf diesem Gebiet. «Alle Bereiche der Gesundheitsversorgung sind betroffen, von Angehörigen und vor allem Patienten. Gewalt ist schon seit zehn Jahren Thema. Häufig wurde es verschwiegen oder die Fachpersonen dachten, das gehöre zu ihrem Job.» Endlich ändere sich das, freut sich Hahn: Durch das Reden über die erlittene Gewalt kämen auch mehr Fälle ans Licht.
Die Schulung des Managements wird sträflich vernachlässigt. Managementpersonen müssen sehr gut ausgebildet sein, um Gewaltprävention für ihr Personal betreiben zu können.
Dieser Gewaltproblematik liesse sich auch etwas entgegensetzen, sagt Hahn. Internationale Forschungen zeigten, dass in Spitälern mit einem umfassenden Gewaltpräventions- und Interventionsprogramm die Gewalt gegenüber Mitarbeitenden sinke.
Kritik an Schweizer Einrichtungen
Mit Blick auf die Schweizer Gesundheitslandschaft übt Hahn harsche Kritik: «Die Schulung des Managements wird sträflich vernachlässigt. Managementpersonen müssen sehr gut ausgebildet sein, um Gewaltprävention für ihr Personal betreiben zu können.» Gelinge dies nicht, wachse das Leid auf beiden Seiten. Zudem sei belegt, dass Gesundheitsmitarbeitende, die Gewalt erleiden, eher eine andere Arbeit suchen würden.
Arzt Sascha Bättig ergänzt: «Oder sie kämpfen selbst mit psychischen, medizinischen Problemen. Das ist in unserer Zeit vom Fachkräftemangel ein Desaster.» Die Gewalterfahrung des Gesundheitspersonals verschärft also den Fachkräftemangel. Diejenigen, die bleiben, haben noch weniger Zeit und damit eine noch schlechtere Ausgangslage. Ein Teufelskreis.