Erstmals ist in der Armee erhoben worden, wie und wie oft es zu Diskriminierungen und sexualisierter Gewalt kommt. Die Ergebnisse sind frappant: Die Hälfte der befragten Armeeangehörigen geben an, Diskriminierung erlebt zu haben, 40 Prozent sexualisierte Gewalt. Mahidé Aslan von der Fachstelle für Frauen in der Armee und Diversity bei der Schweizer Armee hat an der Studie mitgearbeitet.
SRF News: Was dachten Sie, als Sie die Zahlen aus der Studie zum ersten Mal sahen?
Mahidé Aslan: Ich war überrascht darüber, dass es so viele Vorfälle sind und dass sie alle Geschlechter und alle Stufen der Hierarchie betreffen.
Gibt es einen Zusammenhang zum Dienstgrad, ob jemand zum Täter wird?
Überraschend ist, dass es vor allem untere Dienstgrade sind, in denen es zu Übergriffen kommt, wobei die Opfer meist Soldatinnen oder Soldaten sind. Auch bei Unteroffizieren oder Offizieren kommt es zwar zu Übergriffen, doch ihre Zahl nimmt mit dem Dienstgrad ab.
Vorfälle werden umso eher gemeldet, je höhere Dienstgrade involviert sind.
Zudem ist es so, dass Vorfälle umso eher gemeldet werden, je höhere Dienstgrade involviert sind. Oder umgekehrt: Je tiefer der Dienstgrad, umso weniger wird erkannt, dass solches Verhalten nicht in Ordnung ist.
Unteroffizierinnen werden vergleichsweise häufiger zu Täterinnen. Wieso?
Teil der Übergriffskultur ist eine gewisse Verharmlosung, wie wir bei den Befragungen festgestellt haben; dass man denkt, das sei nicht so schlimm und gehöre halt dazu. Wenn nun eine Frau diese Erfahrung als Soldatin macht, fährt sie möglicherweise mit demselben Verhalten in einer höheren Funktion fort.
Nach alter Schule gehört eben dazu, nicht diffizil zu tun und sich resilient zu zeigen.
Frauen in einer Armee-Laufbahn sind in einer Situation, in der sie ihre Leistung sehr explizit bringen wollen und müssen und es möglichst gut machen wollen. Und dazu gehört nach alter Schule eben: nicht diffizil zu tun, sich resilient zu zeigen und zu beweisen, dass man damit umgehen kann.
Hauptgrund für die hohen Zahlen an Übergriffen ist demnach die Armeekultur, so wie sie vorgelebt wird. Haben wir hier ein Problem?
Die Herausforderung besteht darin, dass alle eine Stimme erhalten und diese auch erheben, wenn es zu einem Vorfall kommt. Es muss also Teil der Organisationskultur werden, dass jede und jeder, die oder der einen Vorfall von Diskriminierung feststellt, dies auch meldet und sich nicht still verhält, weil sie oder er deshalb negative Konsequenzen zu befürchten hätte. Man muss in der Armee also fördern, dass diese Leute einschreiten, die Grenze ziehen und dafür auch kämpfen.
Es braucht also einen Kulturwandel – von unten und von oben?
Genau. Dieser Kulturwandel ist 2020 mit der Vision der Armee eingeleitet worden. Der Mensch wurde ins Zentrum gestellt, es gibt eine Diversity-Strategie und einen Massnahmeplan dazu mit vielen Vorgaben zur Organisationskultur. Die neue Kultur muss aber von unten nach oben wachsen und von oben vorgegeben werden.
Die Armee muss sie sich öffnen hin zu einer Armee für alle, die Dienst leisten können und wollen – deshalb braucht es einen Kulturwandel.
Man muss festhalten: Die Armee ist eine Männer-Organisation, von Männern für Männer aufgebaut. Das ist historisch so gewachsen. Es geht jetzt, im Jahr 2024, nicht darum, die Geschichte der Armee infrage zu stellen. Doch heute sind auch Frauen Teil der Armee, deshalb muss sie sich öffnen hin zu einer Armee für alle, die Dienst leisten können und wollen. Weil mit den alten Verhaltensmustern dieser Weg in die Zukunft nicht gegangen werden kann, braucht es den Kulturwandel.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.