Während sich viele über die bevorstehenden Lockerungen freuen, treiben sie anderen die Sorgenfalten auf die Stirn. Für Infektiologe Jan Fehr von der Universität Zürich kommen die Öffnungen früher als erwartet. Er meint, es wäre besser gewesen, für einen kleinen Moment die «Füsse noch etwas stillzuhalten».
SRF News: Wie sehr haben Sie die Lockerungen überrascht?
Jan Fehr: Ich war tatsächlich überrascht und hätte das so nicht erwartet. Wir haben eine fragile Situation und wir bewegen uns auf keinem festem Grund.
Kann es funktionieren?
Für mich ist es ein Experiment, das gut gehen kann, oder nicht. Aber es ist ein Experiment, das risikobehaftet ist. Es ist für mich so, wie wenn man bei Orange über eine Kreuzung fahren und dazu noch die Augen schliessen würde. Wir wissen also nicht, ob wir gut rüberkommen.
Ich hoffe natürlich, dass es gut gehen wird. Aber wir setzen etwas aufs Spiel, das ist wichtig zu realisieren. Ich hätte gedacht, dass wir mit ein bisschen vermehrter Anstrengung kurz vor der Zielgeraden danach in einen ruhigen Sommer gehen können – wenn wir noch für einen kleinen Moment die Füsse etwas still halten und verzichten können.
Vor allem die Innenräume sind meiner Ansicht nach ein Risiko, wo mehrere Leute zusammenkommen.
Kommt die Öffnung also zu früh?
Es kommt darauf an, wie risikofreudig man ist. Wenn man ein grösseres Risiko eingeht, dann sind wir mit der Öffnung nun eher früh dran, ja.
Wir haben tatsächlich eine gute Perspektive. Ein Jahr nach Pandemie-Beginn haben wir einen Impfstoff und wir impfen sozusagen aus allen Rohren. Wir können davon ausgehen: Wenn die Lieferungen kommen, können fast alle Impfwilligen bis Mitte Sommer oder Anfang Herbst geimpft sein.
Wo sehen Sie die Risiken der Öffnungen hauptsächlich?
Vor allem die Innenräume sind ein Risiko, wo mehrere Leute zusammenkommen. Insbesondere dann, wenn konsumiert wird und die Maske ausgezogen werden muss. Das gibt natürlich Vorschub und das Virus freut sich. Auch Veranstaltungen, wo wieder 50 bis 100 Leute zusammen sind. Hier haben wir gelernt, dass das keine guten Momente sind. Was das Ganze zudem antreibt, ist die Mobilität, die zunehmen wird.
Derzeit sind die Betten auf den Intensivstationen nicht ausgelastet. Worin besteht das Problem?
Wenn man die Betten-Anzahl betrachtet, mag das stimmen. Aber man kann das nicht nummerisch anschauen. Dahinter stecken Personen, das Gesundheitspersonal, das über Wochen und Monate im Einsatz war. Es gab in der über ein Jahr andauernden Pandemie strengere und weniger strenge Zeiten – aber es liegt allen in den Knochen. Jeder leidet in dieser Pandemie. Die Frage stellt sich, ob das nun der richtige Zeitpunkt ist, um weitere Öffnungen anzugehen.
Wie lange hätte man Ihrer Meinung nach noch warten sollen?
Eine Zeit kann ich nicht angeben. Mir erscheint aber wichtig, dass wir auf die Parameter, die der Bundesrat selber aufgestellt hat, Bezug nehmen können. Und dass wir sagen können: Doch, wir haben Boden unter den Füssen. Momentan ist es aus meiner Sicht keine Situation, in der wir das mit gutem Grund sagen können.
Es hängt nun entscheidend davon ab, dass sich die Leute bewusst sind, (..) dass wir auf einer Reise sind, auf einem schmalen Grat.
Wovon hängt es ab, ob es gut gehen wird?
Es hängt nun entscheidend davon ab, dass sich die Leute bewusst sind, was das bedeutet. Dass sie sich bewusst sind, dass wir auf einer Reise sind, auf einem schmalen Grat. Und diese Reise könnte unter Umständen auch nicht gut ausgehen. Mit diesem Bewusstsein hoffe ich, dass jeder Einzelne – sei es der Konsument oder auch der Gastronom – sich ganz gut überlegt, wie er nun die Schutzkonzepte so sicher wie nur möglich gestalten kann, damit wir hier gut durchkommen.
Das Gespräch führte Anna Gossenreiter.