Sie haben weder Eltern noch Bezugspersonen, die sich um sie kümmern. Oft gefährden sie sich selbst und andere; und in vielen Fällen würden sie eine Therapie benötigen. Solche Jugendliche können die zuständigen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) kaum in Heimen, Institutionen und Psychiatrien unterbringen; denn der Platzmangel ist akut und hat sich seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie noch verschärft.
Gefängnis als Notlösung
Diese Situation hat dazu geführt, dass die Behörden in mehreren Kantonen Minderjährige in Gefängnissen platzieren, obwohl diese unschuldig sind. Gedacht sind diese kurzen Aufenthalte als sogenannte «Time-outs». Man will die Betroffenen von der Strasse holen und ihnen ein Dach über dem Kopf gewähren. Die Behörden ziehen dafür den Artikel 307 aus dem Zivilgesetzbuch bei, der sinngemäss besagt, dass sie zum Schutz des Kindes «die geeigneten Massnahmen» zu treffen haben, falls dessen Wohl gefährdet ist.
Die Jugendlichen erhalten kaum therapeutische Betreuung und haben keinen Schulunterricht.
In gewissen Fällen, wenn es nicht anders gehe, sei das Gefängnis die bestmögliche Lösung, heisst es dann jeweils. Wie Recherchen von SRF Investigativ zeigen, wiesen in den Jahren 2021 und 2022 die Behörden in sechs Kantonen und dem Fürstentum Liechtenstein Minderjährige zivilrechtlich der Jugendabteilung des Regionalgefängnisses Thun zu. Das geschah in den zwei Jahren gesamthaft in 27 Fällen. Junge Frauen waren deutlich mehr betroffen, weil es für sie noch weniger Plätze in Institutionen und Heimen gibt als für minderjährige Männer.
Zivilrechtliche Zuweisungen aus mehreren Kantonen gab es in den letzten zwei Jahren auch im Jugendgefängnis Waaghof in Basel. Allerdings deutlich weniger als in Thun. Fünfmal wurden dort laut einer Sprecherin Minderjährige eingesperrt, ohne straffällig geworden zu sein.
Zweifel an Rechtmässigkeit
Die Unterbringung von unschuldigen Jugendlichen im Gefängnis ist rechtlich umstritten, obwohl sich die Kesb auf einen Gesetzesartikel berufen. Martina Caroni, die Präsidentin der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter – der sogenannten Antifolterkommission – kritisiert die Praxis. Jugendliche, die nicht mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen seien, hätten «im Gefängnis nichts zu suchen». Hinter Gittern könnten Jugendliche nicht altersgerecht behandelt werden, hält Caroni fest. «Das widerspricht sicher der Kinderrechtskonvention.»
Jugendliche, die nicht mit dem Strafrecht in Kontakt gekommen sind, haben im Gefängnis nichts zu suchen.
Bereits letztes Jahr hatte die Antifolterkommission deshalb beim Berner Sicherheitsdirektor Philippe Müller interveniert und ihn in einem Brief aufgefordert, von der zivilrechtlichen Platzierung Jugendlicher im Regionalgefängnis Thun abzusehen. Dass, wie sich jetzt zeigt, auch weitere Kantone dies praktizieren, alarmiere die Kommission zusätzlich, sagt Präsidentin Caroni.
Der Kritik der Antifolterkommission schliesst sich auch die Berner Kinderanwältin Laura Jost an. Sie vertritt Jugendliche, die zivilrechtlich im Thuner Gefängnis untergebracht wurden. Dies führe etwa zur paradoxen Situation, dass unschuldige Minderjährige zusammen mit jungen Straftätern eingesperrt seien. Die Jugendlichen, die das Gesetz nicht gebrochen hätten, erhielten so kaum therapeutische Betreuung und hätten keinen Schulunterricht.
Straffällige Jugendliche kämen zudem manchmal schneller wieder frei als zivilrechtlich eingewiesene. «Weil es übers Jugendstrafrecht mehr Mittel gibt, die Institutionen dazu zu bringen, die Minderjährigen bei sich aufzunehmen», stellt Jost fest.
30 Absagen für einen Platz im Heim
Die Kinderanwältin erwähnt in diesem Zusammenhang den Fall einer 14-Jährigen, die unschuldig im Gefängnis in Thun landete. Das ist doppelt problematisch, weil selbst jugendliche Straftäter erst ab 16 Jahren eingesperrt werden. Für die junge Frau sah die Kesb aber keine andere Möglichkeit mehr. Sie war zuletzt auf der Strasse gelandet.
Ihre Mutter war früh gestorben, der Vater hatte sich nie um sie gekümmert. In Pflegefamilien kam sie nicht zurecht, aus mehreren Institutionen flüchtete sie und tauchte unter. Sie verfiel früh dem Alkohol, nahm Drogen. Mehr als einmal musste sie im Rausch ins Spital gebracht werden. Bis die Polizei sie eines Nachts aufgriff. Eine Gefährdungsmeldung liess die Behörden daraufhin aktiv werden.
Anwältin Jost erzählt, aus dem geplanten «Time-out» im Gefängnis seien mehr als drei Monate geworden, weil keine Institution und kein Heim die junge Frau mit dieser Vorgeschichte aufnehmen wollten. 30 Absagen habe es gegeben, aus Tagen in Thun seien Wochen geworden.
Jost kennt noch weitere Fälle, in denen Jugendliche nicht nur kurze Zeit im Gefängnis verbrachten.
«Letzte Möglichkeit»
Das sei sehr selten, sagt Andrea Zimmermann, die Leiterin der Jugendabteilung des Regionalgefängnisses Thun. Minderjährige sollten grundsätzlich nicht lange im Gefängnis sein, selbst wenn sie etwas auf dem Kerbholz hätten. «Das ist für alle die Ultima Ratio, also die letzte Möglichkeit.» Diese diene der Kesb dazu, Zeit zu gewinnen und einen besseren Platz zu finden.
Die Unterbringung im Gefängnis verhindere manchmal, dass Jugendliche ohne Kleider und im Drogenrausch in einem Strassengraben gefunden würden, sagt Zimmermann.
Jugendlichen, die fremdplatziert werden müssten, fehlten vor allem liebevolle und Halt verleihende Beziehungen zu Erwachsenen und Gleichaltrigen, sagt Katrin Klein, die Chefärztin der Kinder- und Jugendforensik der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern. Das gelte für alle Fremdunterbringungen.
In absoluten Ausnahmesituationen kann es nötig sein, Jugendliche vorübergehend im Gefängnis in Thun zu platzieren.
Wenn die Betroffenen dann statt ein paar Tage viel länger als vereinbart bleiben müssten, wirke sich das noch gravierender aus. «Es ist eine Enttäuschung, die Erwachsenen sind nicht mehr vertrauenswürdig und verlässlich.» Die Jugendlichen würden oft depressiv. «Es ist ihnen eigentlich egal, wie es weitergeht, weil sie keine Hoffnung mehr haben.»
Dringender Handlungsbedarf
Mehrere Kesb aus dem Kanton Bern bringen trotz breiter Kritik Minderjährige zivilrechtlich im Gefängnis in Thun unter. Das geschehe zu deren Schutz, man wähle stets die mildestmögliche Massnahme, betont Adrian Brand, der Geschäftsleitungsvorsitzende der Kesb im Kanton Bern: «In absoluten Ausnahmesituationen kann es nötig sein, Jugendliche vorübergehend im Gefängnis in Thun zu platzieren, auf der speziellen Jugendabteilung.» Zum Beispiel, wenn die Polizei sie mitten in der Nacht auf der Strasse aufgreife, nachdem sie aus einer Institution geflüchtet seien. Oft könnten sie dann nicht sofort dorthin zurückgebracht werden.
Die Massnahme, Minderjährige zivilrechtlich im Gefängnis unterzubringen, könne vor Gericht angefochten werden, hält Brand fest. In Ausnahmesituationen schützten Obergerichte und auch das Bundesgericht diese Praxis.
Von Fällen, in denen unschuldige Jugendliche wochenlang im Gefängnis sassen, habe er keine Kenntnis: «In elf Jahren ist mir keine einzige solche Situation begegnet.»
Fakt ist, dass die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der 2021 und 2022 zivilrechtlich im Regionalgefängnis Thun platzierten 27 Jugendlichen über zwei Wochen betrug.
Alle Beteiligten sind sich einig, dass der akute Platzmangel in Institutionen und Heimen zu unbefriedigenden Notlösungen zwingt. Der Handlungsbedarf ist unbestritten. Doch bis die Politik reagiert, bleibt die Situation angespannt. Zumindest im Kanton Zürich tut sich etwas: Der Kantonsrat hat Anfang November einer Initiative zugestimmt, die auf eine verbesserte Versorgung in der Jugendpsychiatrie abzielt.