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Versöhnliches Zeichen Parlament gibt Kohäsionsmilliarde an die EU frei

  • Auch der Nationalrat will den ausstehenden Kohäsionsbeitrag in Höhe von 1.3 Milliarden Franken an die EU rasch deblockieren.
  • Er hat entschieden, die entsprechenden Rahmenkredite ohne neue Bedingungen freizugeben.
  • Nun hofft die Schweiz auf ein Entgegenkommen der EU – etwa bei der Teilnahme am EU-Forschungsprogramm Horizon Europe.

Soll die Schweiz die zweite Kohäsionsmilliarde an ausgewählte EU-Staaten sofort bezahlen, obwohl sie von der EU in verschiedenen Bereichen weiter diskriminiert wird?

Reaktion der EU

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Die EU hat auf die Freigabe der Kohäsionsmilliarde reagiert. Der Pressesprecher der EU-Kommission teilt mit:

  • Wir begrüssen die Entscheidung des Schweizer Parlaments für die bedingungslose Auszahlung des zweiten Schweizer Kohäsionsbeitrags.
  • Wir erinnern daran, dass die letzte Zahlung des vorherigen Beitrags aus dem Jahr 2012 stammt, also aus mehr als einem ganzen Zyklus des mehrjährigen Finanzrahmens.
  • Ein solcher Beitrag ist jedoch das natürliche und logische Gegenstück zur Beteiligung der Schweiz am wichtigsten Binnenmarkt der Welt.
  • Sobald die Bedingungen der diesbezüglichen Vereinbarung zwischen der EU und der Schweiz vereinbart sind, sollte dies den Weg für die Finanzierung der allerersten Massnahmen ebnen, die zum Abbau der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zwischen den Regionen und zur Förderung ihrer Zusammenarbeit im Bereich der Migration beitragen.
  • Wir müssen über einen Mechanismus nachdenken, der sicherstellt, dass die Schweiz in Zukunft die von der EU selbst und von den EWR-EFTA-Staaten gesetzten Standards finanziell erfüllt.

Diese Frage hatte schon im Ständerat zu einer über zweistündigen, intensiven Debatte geführt. Dabei wurde viel Kritik laut – am Vorgehen des Bundesrates, aber auch an der EU. Am Schluss stimmte die kleine Kammer der Zahlung aber deutlich zu. Schliesslich nahm auch der Nationalrat die Vorlage klar mit 131 zu 55 Stimmen bei 1 Enthaltung an.

Sitzfleisch gefragt

Am späten Abend ging die Temperatur auch im Nationalrat hoch. Mit vornehmer Verspätung: Nachdem sich die dringliche Debatte zur Krise in Afghanistan in die Länge gezogen hatte, startete die Verhandlung erst kurz vor 20 Uhr.

Einschätzung des SRF-Korrespondenten

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SRF-Brüssel-Korrespondent Michael Rauchenstein: «Die EU-Kommission hat die Rhetorik gegenüber der Schweiz nach dem Verhandlungsabbruch deutlich verschärft. Obwohl das Schweizer Parlament nun einen Schritt auf Brüssel zugemacht hat, könnte die Reaktion auf die Freigabe der Kohäsionsmilliarde nicht nüchterner sein.

Kein Wort zu jetzt möglichen Gesprächen zu einer Assoziierung der Schweiz beim Forschungsprogramm «Horizon Europe», kein Wort für mögliche neue Verhandlungen in anderen Bereichen mit der Schweiz.

Ganz im Gegenteil: Die Freigabe der Kohäsionsmilliarde stehe nicht in Verbindung mit anderen politischen Dossiers. Das klang vor einigen Wochen noch anders. Es ist zwar möglich, dass jetzt die Mitgliedstaaten bei der Kommission Druck machen, um wenigstens mit der Schweiz über «Horizon Europe» zu sprechen. Ob die EU-Kommission darauf eingehen wird, ist momentan mehr als fraglich.»

Ein Ordnungsantrag von SVP-Nationalrat Erich Hess, die Sitzung unter Verweis auf die fortgeschrittene Stunde und eine Demo von Massnahmenkritikern in Bern abzubrechen, scheiterte.

Trotz Marathonsitzung: Allfällige Ermüdungserscheinungen waren beim Reizthema EU schnell weggewischt. Erich Nussbaumer (SP/BL) sagte im Namen der Mehrheit der Aussenpolitischen Kommission, dass durch eine Freigabe des Geldes auch das Verhältnis zur EU deblockiert werden solle. «Eine Seite muss jetzt die Deeskalationsspirale in Gang bringen.»

«Schwitzkasten-Mentalität der EU»

Roger Köppel (SVP/ZH) startete mit einem abgewandelten Zitat von Woody Allen:

Die Schweiz weigere sich bis heute, sich diesem Gebilde zu unterwerfen; die EU setze mit «Schwitzkasten-Mentalität» Druck auf. Nun einzulenken, setze auch international ein Zeichen der Schwäche. «Wenn Sie einem Erpresser Geld geben, kommt gleich die nächste Erpressung.»

Bundesrat Cassis: Keine Garantie für Forschungskooperation

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Cassis
Legende: Keystone

Aussenminister Ignazio Cassis stand im Namen des Bundesrats für eine rasche Deblockierung der Gelder ein. «Wir müssen den Blick nun nach vorne richten.» Der Bundesrat wolle, dass die Schweiz auch ohne das institutionelle Abkommen eine zuverlässige und engagierte Partnerin der EU bleibe.

Cassis machte jedoch klar: «Eine Freigabe ist keine Garantie dafür, dass die Schweiz künftig bei Horizon Europe oder Erasmus plus mitmachen kann.» Es gelte nun aber, ein Zeichen zu setzen.

Sibel Arslan (Grüne Fraktion/BS) setzte sich für die bedingungslose Freigabe der Gelder ein. «Ein zerrüttetes Verhältnis zu unserer wichtigsten Nachbarin und Handelspartnerin lähmt uns.» Die Forschung leide ebenso wie die Wirtschaft. Beide Seiten hätten Fehler gemacht, aber die Schweiz den finalen Fehler: Weil sie ohne Plan B die Verhandlungen mit Brüssel abgebrochen habe.

SP-Nationalrat Fabian Molina sekundierte: «Nach dem verantwortungslosen Abbruch der Verhandlungen durch den Bundesrat ist das ein kleiner, aber wichtiger Schritt zur Normalisierung der Beziehungen.»

Die bilateralen Wogen glätten

Roland Fischer (GLP/LU) plädierte ebenfalls für die rasche Freigabe der Geldes. «Die Schweiz gehört zu den Staaten, die am meisten von der Teilnahme am europäischen Binnenmarkt profitieren.» EWR-Staaten wie Norwegen würden bei kleinerem Bruttoinlandsprodukt vergleichsweise mehr zahlen als die Schweiz.

Auch FDP-Nationalrätin Christa Markwalder sprach sich dafür aus, die Kohäsionsbeiträge ohne Bedingungen freizugeben. «Dies, um nach viel zerschlagenem Geschirr einen vernünftigen Modus Vivendi zu finden.»

Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter befand: «Mit einem Ja zu dieser Vorlage haben wir längst nicht alle Baustellen im Griff.» Ohne die Freigabe der Gelder würde die EU der Schweiz aber unter Garantie nicht entgegenkommen – auch wenn Brüssels Vorgehen fragwürdig sei.

Kohäsionsmilliarde – darum geht es

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Am 3. Dezember 2019 hat das Parlament die Rahmenkredite für einen zweiten Schweizer Beitrag an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten bewilligt.

Insgesamt geht es bei der sogenannten Kohäsionsmilliarde um gut 1.3 Milliarden Franken, die über zehn Jahre ausbezahlt werden sollen. Das Ziel: Wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten zwischen alten und neuen EU-Ländern zu reduzieren.

Der grösste Teil ist für den Rahmenkredit Kohäsion vorgesehen. Konkret soll über eine Milliarde Franken zu den 13 EU-Mitgliedstaaten fliessen, die seit 2004 der Europäischen Union beigetreten sind, namentlich Bulgarien, Estland, Kroatien, Litauen, Lettland, Malta, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern. Dort sollen unter anderem Berufsbildungsprojekte finanziert werden.

Hoher Zeitdruck

Insbesondere bei den Kohäsionsprojekten ist der Zeitdruck hoch, weil das zugrundeliegende Gesetz Ende 2024 ausläuft. Gemäss dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) müssen die Mittel daher bis 3. Dezember 2024 verpflichtet werden.

Rund 190 Millionen Franken sollen an Staaten gehen, die besonders von Migration betroffen sind. Diese sollen in ihren Anstrengungen unterstützt werden, die Asylstrukturen zu stärken und ein effizienteres Asyl- und Rückkehrverfahren aufzubauen.

2006 hat das Stimmvolk in einer Referendumsabstimmung die erste Kohäsionsmilliarde genehmigt. Seit 2007 beteiligt sich die Schweiz folglich mit einem Erweiterungsbeitrag.

Rendez-vous, 30.09.2021, 12:30 Uhr ; 

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