Thomas leidet seit seiner Kindheit unter Depressionen. Mit 28 Jahren heiratet er Ursula Käufeler. Sie weiss, dass ihr Mann noch immer unter wiederkehrenden depressiven Phasen leidet.
«Er sagte aber stets, dass er uns, seine Kinder und mich, liebt und sich niemals etwas antun werde», erzählt Ursula Käufeler, «das Leben wegwerfen sei keine Option für ihn, das sagte er auch im März 1997». Zwei Tage später findet sie ihn im Keller – tot.
«Es war Morgen, ich lag im Bett als der 7-jährige Sohn ins Zimmer kam. Ich fragte, ob Thomas noch das Zmorge isst, der Sohn sagte nein. Ich dachte dann, dass er wohl noch etwas am Computer macht.» Der Sohn suchte seinen Papi, fand ihn aber nicht. «Er sagte mir dann, dass seine Schuhe noch da sind, er ihn aber nicht finden kann. Da wusste ich, dass etwas passiert sein musste.» Ursula Käufeler sagte ihrem Sohn, er soll in sein Zimmer gehen. Sie stieg die Treppen hinunter, in den Keller. «Da sah ich eine Türe, die so schräg stand, wie das sonst nie der Fall war. Da wusste ich: Thomas wird hinter dieser Türe zu finden sein.»
Thomas nahm sich mit 37 Jahren das Leben. Das war im Jahr 1997. Er ist einer von hunderten von Männern, die sich jedes Jahr das Leben nehmen. 2017 waren es 773 Männer und 270 Frauen haben.
«Dass sich viel mehr Männer das Leben nehmen als Frauen heisst nicht, dass sich weniger Frauen das Leben nehmen wollen.» Thomas Reisch ist ärztlicher Direktor des Psychiatriezentrums Münsingen und forscht seit Jahren zum Thema Suizid.
Für Thomas Reisch ist klar, dass ein wichtiger Grund für den grossen Unterschied in der Wahl der Suizidmethode liegt. «Männer sind vertraut mit der Waffe, sie kennen sie beispielsweise aus dem Militärdienst und wissen, wie sie zu bedienen ist. Frauen haben diese Möglichkeit kaum.»
Und es gibt noch einen weiteren Grund, warum Männer, die Suizid begehen, oft harte Methoden wählen: «Männer wollen den letzten Akt unter Kontrolle haben. Ihnen spielt es keine Rolle, wie schrecklich sich das Bild präsentiert, wenn ihr Körper gefunden wird. Anders die Frauen: sie möchten den Körper unversehrt lassen und greifen deshalb eher auf Medikamente zurück.»
«Warum tust du uns das an?»
Ein Suizid hinterlässt oft Trauer, Wut und Fassungslosigkeit. Für Ursula Käufeler brach mit dem Tod ihres Mannes eine Welt zusammen.
«Ich stand vor einem Trümmerhaufen. Der Schmerz des Verlustes ist unbeschreiblich heftig. Und ich fragte mich: warum tust du mir das an? Wir haben doch eine Familie, wir wollten zusammen in die Ferien gehen.»
In einem Sommer unternahm Thomas alleine eine Wanderung in die Berge. Sein Ziel war, sich durch einen absichtlichen Absturz das Leben zu nehmen. Doch der Ausflug bewirkte das Gegenteil: Thomas verspürte in der Bergwelt Lebensfreude. «Als er mir das erzählte, wurde für mich mir klar, dass für ihn Suizid ein Thema war.»
Männer wollen nicht über Emotionen sprechen
Ursula Käufelers Mann sprach regelmässig über seine depressiven Phasen und nahm Hilfe in Anspruch. Damit ist er unter den Männern eher die Ausnahme, erklärt Thomas Reisch, ärztlicher Direktor des Psychiatriezentrums Münsingen: «Es gibt nach wie vor das Selbstbild der Männer, dass sie keine Schwäche zeigen dürfen und alles unter Kontrolle haben müssen. Aus dem Gedanken heraus, dass Mann keine Schwächen zeigen darf, folgt, dass Männer nicht über Emotionen sprechen wollen. Für Frauen ist das viel weniger ein Problem.»
Bereits bei Jugendlichen unterscheidet sich die Anzahl vollzogener Suizide zwischen jungen Männern und Frauen stark. Innerhalb von fünf Jahren waren es 36 junge Frauen und 106 junge Männer, die sich das Leben genommen haben.
«Junge Männer empfinden es oft als Schwäche, Hilfe zu holen» erklärt Stephan Kupferschmid, Chefarzt für Jugendliche und junge Erwachsene der Integrierten Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland. «Wir gehen davon aus, dass unsere Therapieangebote und Beratungsstellen nur von etwa zehn Prozent der Männer, die Hilfe benötigen, erreichen, während es bei den jungen Frauen ungefähr 30 Prozent sind.»
«Es braucht mehr Angebote»
Was ist zu tun? Für Stephan Kupferschmid braucht es mehr ambulante und niederschwellige Angebote, damit Beratungstermine schneller vergeben werden können, wenn die Krise akut ist, «denn in Krisen sind Jugendliche oft gut ansprechbar». Zudem sei es an der Psychiatrie selbst, Veränderungen vorzunehmen und die Angebote mehr auf Männer zuzuschneiden.
Ursula Käufeler konnte nach dem Suizid ihres Mannes auf die unmittelbare Unterstützung ihrer Familie, der Nachbarn und Leuten aus dem Dorf zählen, «das war die grösste Hilfe im Moment, ich funktionierte nur. Dank der unmittelbaren Hilfe aus dem nahen Umfeld konnte ich überleben.» Für ihre zwei Kinder suchte sie später Hilfe, sie besuchten eine Maltherapie.
Hilfe durch Selbsthilfe
«Ein Jahr nach dem Suizid von Thomas kam eine Frau auf mich zu, deren Mann sich auch das Leben genommen hat. Sie erzählte mir von einer Selbsthilfegruppe für Suizidhinterbliebene.» Ursula Käufeler ging kurz darauf auch in die Selbsthilfegruppe Refugium in Bern, um mit anderen Betroffenen über das Geschehene zu sprechen. «Da treffe ich auf die gleichen Gefühle, ich muss nichts erklären, alle wissen, wovon ich spreche. Das tut gut,» sagt Ursula Käufeler.
Mit dem Verlust ganz abschliessen wird sie nie. Doch Ursula Käufeler lernte, damit umzugehen, damit zu leben. «Ich habe die Lebenslust zurückgewonnen. Meine Kinder und ich sind gut unterwegs, auch beruflich, wir haben unsere Wege gefunden. Das ist nicht selbstverständlich.»
Ursula Käufeler ist inzwischen Grossmutter. «Dass Thomas die Zeit mit den Enkelkindern nicht erleben kann, stimmt mich ab und zu traurig. Es wäre schön gewesen, hätte Thomas dies mit uns miterlebt.»