«Es war gerade nach der Geburt. Ich war schockiert, weil ich davon nie etwas gehört habe. Ich habe nicht gewusst, was eine Variation der Geschlechtsmerkmale bedeutet.» Das sagt die Mutter eines intergeschlechtlichen Kindes. Niemand weiss davon, deshalb möchte sie anonym bleiben. Ihr Leben hat sich eingependelt – doch das war nicht immer so.
«Ich hatte Angst, dass mein Kind gemobbt wird, dass es vielleicht sogar vergewaltigt wird, weil es anders ist. Ich hatte Angst, dass es diskriminiert und ausgeschlossen wird.»
Die Eltern haben sich bei zahlreichen interdiziplinären Treffen mit Ärzten und Psychologinnen beraten, ob sie ihr Kind, dessen Geschlecht nicht eindeutig ist, behandeln lassen sollen. Mit diesen Treffen verbindet die Mutter gemischte Gefühle. Der Druck, dem Kind ein Geschlecht zuzuordnen, sei enorm gewesen.
Es gibt kein Recht für uns, dem Kind zu sagen, in welche Rolle es gedrängt wird.
«Ich habe mich sehr gut aufgehoben gefühlt zu Beginn.» Aber später sei immer wieder das Thema aufgekommen, dass ein Hormoneingriff gemacht werden sollte. «Mein Mann und ich haben uns dagegen entschieden. Es gibt kein Recht für uns, dem Kind zu sagen, in welche Rolle es gedrängt wird.»
Eingriffe nur bei Risiko
Die Endokrinologin Christa Flück behandelt seit Jahren Kinder mit einer Variation von Geschlechtsmerkmalen. Wenn Neugeborene atypische Genitalien aufweisen, untersucht sie die Hormone und Gene des Kindes. Eingriffe gibt es nur, wenn ein Risiko droht.
«Im neonatalen Screening, das mit jedem Baby gemacht wird, sieht man, dass das Kind ein sogenanntes Adrenogenitales Syndrom hat», sagt Flück als Beispiel. Innerhalb von 48 Stunden könne man diese Diagnose stellen. Das Kind brauche eine Hormonbehandlung, sonst stirbt es.
«Sonst braucht es eigentlich kaum etwas, wenn das äussere Genitale nicht zu stark in die männliche Richtung geht, das Baby Wasser lassen und Stuhl ausscheiden kann.» Falls dies nicht gehe, brauche es vielleicht einen chirurgischen Eingriff.
Ständerat nimmt Richtlinien-Motion an
Die Mutter des intergeschlechtlichen Kindes ist erleichtert, dass das Thema in der Politik angekommen ist. Doch die Richtlinien-Motion, die vom Ständerat angenommen wurde, sei unzureichend. «Richtlinien sind Empfehlungen. Das ist zu wenig, Richtlinien muss man nicht einhalten.»
Christa Flück hingegen befürwortet die Motion. Sie hat als Vertreterin der Schweiz auf europäischer Ebene mit Kolleginnen und Kollegen Fragestellungen für die Behandlung von intergeschlechtlichen Kindern ausgearbeitet. «Es gibt natürlich noch viele Fragestellungen, die ungelöst sind», so Flück.
Gesellschaftliche Diskussion nötig
Paul Hoff ist Präsident der zentralen Ethikkommission der Ärzteschaft. Die Chancen sind gross, dass die Ethikkommission bald Richtlinien für den Umgang mit intergeschlechtlichen Kindern ausarbeiten wird. Dabei gehe es um eine Hilfeleistung, die die gesellschaftliche und ethische Diskussion einbeziehen müsse.
«Entscheidungen, ob eine Operation gemacht wird bei einem kleinen Kind oder nicht. Das beeinflusst den Rest des Lebens eines Menschen», so Hoff.
Für die Richtlinien werden alle einbezogen. Auch Eltern mit ihrem intergeschlechtlichen Kind. Damit hätten sie ein Ziel erreicht: Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber, wie man mit Kindern, die von der Norm abweichen, umgehen soll.