Sie halten den Schweizer Staat für eine Privatfirma, bezahlen keine Steuern oder Bussen und schikanieren Behörden: Sogenannte Staatsverweigerinnen und Staatsverweigerer. Doch woher kommt ihr Groll auf den Staat und diejenigen, die für ihn arbeiten? Julia Sulzmann sieht das Problem auch in Kontakten mit Personen, die sich bereits dieser Ideologie angeschlossen haben.
SRF News: Um was für Menschen handelt es sich bei Staatsverweigerern?
Julia Sulzmann: Die Szene ist sehr heterogen – man kann nicht von dem typischen Staatsverweigerer oder der typischen Staatsverweigerin sprechen. Demografisch sind es eher Leute im mittleren Alter, die sich dieser Ideologie anschliessen – also zwischen 40 und 60 Jahre alt. Wir treffen auch auf mehr Männer als Frauen.
Laut der SRF-Recherche schikanieren diese Menschen regelmässig die Behörden, indem sie etwa weder Steuern noch Bussen bezahlen und auch sämtliche amtliche Post ignorieren. Warum handeln diese Frauen und Männer so?
Man muss sich in ihre Lage versetzen. Wenn ich jetzt tatsächlich davon ausgehe, dass der Staat, den ich kenne und dem ich mein Leben lang vertraut habe, für mich nicht mehr rechtmässig existiert, dann fühle ich mich natürlich damit im Recht, diesem Staat auch nichts mehr zu geben, also Steuern oder Bussen zu zahlen. Da entsteht ein Gefühl, das Gefühl betrogen worden zu sein. So sind die Schikanen erklärbar, aber natürlich keinesfalls zu rechtfertigen.
Man wird dann immer mehr hineingezogen in ein Weltbild, das alles infrage stellt, was man bisher kannte.
Damit man sich betrogen fühlt, muss ja etwas passiert sein. Was könnte das für ein Ereignis sein?
Vermutlich baut sich das über die Zeit auf, indem man mit Leuten in Kontakt kommt, die sich bereits dieser Weltanschauung angeschlossen haben. Und man wird dann immer mehr hineingezogen in ein Weltbild, das alles infrage stellt, was man bisher kannte. Und irgendwann erreicht man dann eventuell den Punkt, wo man sagt: ‹Okay, ich kann eigentlich gar nichts mehr glauben› – und da kommt dann auch der Groll.
Wie sieht es aus mit der Gewaltbereitschaft in diesen Kreisen?
Bis jetzt ist uns nicht bekannt, dass tatsächlich zur Gewalt aufgerufen worden ist. Oder dass sich da Einzelne zusammenschliessen und Taten planen. Aber grundsätzlich ist es in solchen radikalisierten Gruppen immer möglich, dass bei Einzelnen sozusagen das Fass überläuft, und sie dann gewalttätig werden.
Grundsätzlich betrifft es meistens einen eher suburbanen Raum mit kleinen und mittelgrossen Städten, in dem Staatsverweigerer aktiv sind.
Die SRF-Recherche zeigt, dass offenbar die Ostschweiz die Hochburg in Sachen Staatsverweigerer ist. Können Sie sich das erklären?
Es gibt im gesamten deutschsprachigen Raum Staatsverweigerer – mit einigen Hochburgen. Eine davon ist eben die Ostschweiz. Dass die aktuell im Fokus ist, liegt auch an öffentlichkeitswirksamen Aktionen in der Region. In der Gemeinde Herisau wurden zum Beispiel überall Flyer verteilt, die Gemeinde sei «heimlich privatisiert» worden. Grundsätzlich betrifft es meistens einen eher suburbanen Raum mit kleinen und mittelgrossen Städten, in dem Staatsverweigerer aktiv sind.
Welche Rolle spielte die Coronapandemie für die Szene der Staatsverweigerer?
Die Pandemie scheint der gesamten Szene rund um Verschwörungstheorien, zu denen auch die Staatsverweigerer gehören, einen Schub verpasst zu haben. Das Gefühl, dass einem unrechtmässig Regeln aufgezwungen wurden, scheint sich vermehrt entwickelt zu haben – oder, wenn es sowieso eine Tendenz dazu gab, dass dieses Gefühl noch verstärkt wurde.
Das Gespräch führte Ronja Bollinger.