Derzeit reisen wöchentlich bis zu 1000 Migranten von Österreich her in die Schweiz und fahren sofort weiter Richtung Frankreich. Zum Vergleich: Im letzten Winter waren es noch etwa 300 pro Woche. Der Grund für die deutliche Zunahme ist in Serbien zu suchen.
Das Balkanland hat die Visumspflicht für fünf Länder abgeschafft. Unter ihnen sind zum Beispiel Tunesien und Indien. Nun nutzen viele Migrantinnen und Migranten die serbische Hauptstadt als Durchgangspunkt, um in die EU weiterzureisen. Florian Bieber, Experte für Südosteuropa, über Belgrads mögliche Motive.
SRF News: Hat Serbien die Visumspflicht für verschiedene Länder mit Hintergedanken abgeschafft?
Florian Bieber: Ich glaube nicht, dass Serbien versucht, Flüchtlinge in die EU zu schleusen. Es hat damit zu tun, dass Serbien immer eine eigenständige Aussenpolitik führt und auch versucht, gute bilaterale Beziehungen mit verschiedenen Ländern zu unterhalten. Gerade auch in Hinblick darauf, dass diese Länder die serbische Position was Kosovo angeht unterstützen. Hier internationale Allianzen zu schmieden, ist die wichtigste Priorität für Serbien. Ein Teil davon könnte die Visabefreiung für gewisse Länder sein.
Hat Serbien etwas von dieser Migration, wenn etwa Menschen aus Tunesien oder Indien einreisen?
Wenn sie nur als Touristen oder beruflich einreisen, bringt das Serbien natürlich etwas. Wenn sie jedoch versuchen, die Grenze in die EU zu überqueren – dann bringt es Serbien sehr wenig. Denn die meisten Menschen stranden zunächst in Serbien. Man gelangt nicht so leicht von Serbien in dessen Nachbarstaaten. Seit Jahren gibt es das Problem, dass tausende Geflüchtete aus dem Nahen Osten immer wieder in Serbien gestrandet sind.
Der Fall liegt hier anders als bei Belarus, das letztes Jahr Menschen aus Irak direkt an die polnische Grenze brachte. Das war sozusagen ein Staatsprojekt zur Destabilisierung der EU.
In Serbien herrscht auch eine zunehmend migrationsfeindliche Atmosphäre. Rechtsextreme Gruppen machen sich diese zunutze, um gegen Ausländer und Migranten vorzugehen. Deshalb wüsste ich nicht, warum Serbien Interesse daran haben könnte, dass noch mehr Menschen in Serbien stranden. Es führt auch in Serbien selbst zu Unsicherheit, wenn Menschen beim Grenzübertritt immer wieder zurückgeschickt werden.
Der Fall liegt hier anders als bei Belarus, das letztes Jahr Menschen aus Irak direkt an die polnische Grenze brachte. Das war sozusagen ein Staatsprojekt zur Destabilisierung der EU. Das ist in Serbien eindeutig nicht erkennbar.
Russland ist ein Verbündeter Serbiens und hat derzeit grosses Interesse daran, die EU im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg zu destabilisieren. Kommen Serben den Russen hier entgegen?
Das kann ich mir nur sehr schwer vorstellen. Aus meiner Sicht ist die serbische Politik in vielen Fragen sehr eigenständig. Präsident Aleksandar Vucic hat sich zwar eng mit Putin verbündet, ist aber nicht sein Befehlsempfänger, so wie etwa Lukaschenko in Belarus. Vucic macht seine eigene Politik. Er könnte natürlich glauben, dass er damit Druck auf die EU ausüben kann. Aber auch diese These finde ich nicht überzeugend.
Dass Russland die Finger im Spiel hat, glaube ich eher nicht.
Vucic ist zwar ein Meister darin, Krisen zu inszenieren, die er danach wieder lösen kann. Vor einem Jahr gab es zum Beispiel den Fall, dass viele Iraner über Serbien in die EU gelangen wollten. Damals machte die EU Druck und Serbien führte die Visumspflicht für Iran wieder ein. Das Ganze könnte ein Versuch sein, die EU von anderen Fragen abzulenken, die die gegenseitigen Beziehungen belasten. Das ist aber reine Spekulation.
Das Gespräch führte Daniel Hofer.