Sie wollen eine neue Chance. Noch eine. Bereits als Teenager waren sie ins Dschihadisten-Umfeld Winterthurs und in Konflikt mit dem Gesetz geraten, fuhren aber auf dem gleichen Weg weiter – trotz Strafverfahren und Untersuchungshaft. Jetzt aber wollen sie es ernst meinen, dies beteuern die zwei Schweizer Angeklagten, heute 23 und 29 Jahre alt, vor dem Bundesstrafgericht.
«So kann es nicht weitergehen», zu dieser Einsicht sei er eines Tages gekommen in seiner Einzelzelle, in der er 23 Stunden am Tag eingeschlossen war, sagt der Jüngere. Darauf habe er sich entschieden, sich vom Gedankengut des «Islamischen Staates» zu verabschieden. Der Gerichtspräsident will wissen, wie das denn gehe, sich selber zu deradikalisieren. «Es ging nicht mehr tiefer. Und man hat sehr viel Zeit zum Nachdenken.»
Nach rund zwei Jahren kam er frei, das war im letzten Sommer. Mit seiner Anwältin habe er verschiedene Therapie- und Begleitungsmassnahmen vorbereitet, die bis heute laufen und von einem Betreuer vor Gericht bestätigt wurden.
Pflichtverteidigerin: Mandant auf Weg der Resozialisierung
Ein Tag in der neu gewonnenen Freiheit sei entscheidend gewesen, erzählt der Angeklagte. Da sei er noch praktizierender Muslim gewesen. «Wir wollten zusammen in Läden gehen, gemeinsam essen.» Normalerweise hätte er den Tag rund um seine religiösen Pflichten geplant. «Doch am Morgen hatte ich das Gefühl, ich will raus, will leben, mir nicht mehr vorschreiben lassen, was ich tun soll. Ich wollte einfach das Leben leben.» Dieser Absicht sei er noch immer.
Seine Pflichtverteidigerin, Eva Spoerri, sagt denn auch, eine erneute Inhaftierung, wie die Bundesanwaltschaft fordere, würde den Weg der Resozialisierung, auf dem sich ihr Mandant befinde, erheblich gefährden.
Anwalt: «Die Kinder vermissen ihren Papi»
Noch in Haft, seit gut zweieinhalb Jahren inzwischen, befindet sich der zweite Angeklagte. Sein Verteidiger Remo Gähler fordert, er müsse nach der für Montag, 24. März geplanten Urteilsverkündung umgehend freigelassen werden. Und dazu 95'000 Franken Genugtuung erhalten wegen zu langer Haft. «Die Kinder vermissen ihren Papi», sagte der Rechtsanwalt in seinem Plädoyer.
Auch er, der 29-Jährige, beteuert, sich vom IS-Gedankengut gelöst zu haben und wünscht sich ein normales Leben. Arbeiten, Ehemann und Vater sein, von Winterthur wegziehen, so seine Pläne für die Zeit nach einer Freilassung.
Bereits zweimal in Untersuchungshaft
Seine Vorgeschichte im Umfeld von IS-Sympathisanten rund um Winterthur reicht beinahe zehn Jahre zurück. Zweimal befand er sich zuvor schon mehrere Monate in Untersuchungshaft. Wenige Stunden nach dem Anschlag in Wien 2020 war er festgenommen worden. Von einer möglichen Tatbeteiligung, Vorbereitung oder Mitwisserschaft wurde er freigesprochen.
Dass er im Milieu des späteren Terroristen verkehrte, war –zum Missfallen des Verteidigers, der auf den Freispruch verwies – im Prozess erneut Thema. Auch, weil er nach der damaligen Untersuchungshaft mit Propagandaaktivitäten fortgefahren war.
Der Gerichtspräsident wollte wissen, wie er auf das Attentat in Wien 2020 reagiert habe. «Ich war schockiert. Aus heutiger Sicht verabscheue ich das, ich bin absolut dagegen.»