Auf die gut 350'000 Einwohnerinnen und Einwohner kommen im Kanton Tessin die SRG-Programme von Fernsehen und Radio RSI, ein Privatfernsehen, zwei Privatradios sowie mehrere Tages- und Wochenendzeitungen und ein Newsportal im Internet.
Die Mediendichte sei im Tessiner Alltag sehr präsent, sagt der 87-jährige Medienethiker Enrico Moresi. «Ich glaube, es gibt kaum eine Bar und kaum ein Restaurant, wo keine Zeitung aufliegt. Wir Tessiner und Tessinerinnen waren schon immer gierig auf Tageszeitungen.»
Grosse Nähe und viel Druck
Moresi war lange Zeit Redaktionsleiter beim «Corriere del Ticino», einer der beiden Tessiner Tageszeitungen. Danach wechselte er zum Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz, RSI. Er spricht von einer grundsätzlich anständigen Qualität der Medieninhalte in der Südschweiz. «Exzellent finde ich vor allem gewisse Kommentare. Schwachstellen orte ich bei der lokalen Berichterstattung. Da gibt es eine starke Abhängigkeit von lokalen Interessenvertretern», betont Moresi.
Im Tessin kennt jeder jeden – das führt unweigerlich zu Nähe. Diese erschwere kritische Berichterstattung, sagt der Medienethiker. Zudem stünden viele Journalistinnen und Journalisten unter dem Druck, schnell viel publizieren zu müssen. Denn die vielen Zeitungsseiten und Sendeminuten müssen täglich gefüllt werden.
Recherche ist teuer. Nur das Radio und Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz kann sich das noch leisten.
Ein einfacher Vergleich: RSI produziert jeden Tag eine Sendung «Schweiz aktuell» mit ausschliesslich Tessiner Inhalten. «Artikel werden in die Länge gezogen. Damit werden Nebensächlichkeiten gross. Ein Journalist kann nicht jeden Tag drei vertiefte Artikel schreiben», so Enrico Moresi.
Die Recherche müsse dabei grösstenteils auf der Strecke bleiben. Denn Recherche ist teuer. Nur das Radio und Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz könne sich diese noch leisten. Komme hinzu, dass Recherchieren anstrengend sei und Mut brauche.
Politiker sind besonders präsent
Auch Politgeograf Oscar Mazzoleni kennt die Eigenheiten des Tessiner Mediengeschehens. Er sagt: Nirgends in der Schweiz seien die Politikerinnen und Politiker medial so sichtbar wie im Tessiner Fernsehen. «Die Formate des öffentlichen, aber auch privaten Fernsehens mit ihren langen Debatten und Interviews geben den Politikern viel Raum. Dieses Mediensystem garantiert ihnen also Publizität und damit die Möglichkeit einer Wiederwahl.»
Die Tessiner Politikerinnen und Politiker profitieren also von den Journalistinnen und Journalisten. Denn diese sind auf die Politiker angewiesen, um täglich ihre Sendungen füllen zu können. Die journalistische Debatte sei im Tessin zahmer als in der Deutschschweiz, sagt der Politgeograf. Denn im Tessin fehle ein unabhängiges Boulevardmedium wie der «Blick».
«Ein unabhängiges Boulevardmedium, das skandalisiert und damit an der politischen Glaubwürdigkeit kratzt, gibt es heute viel weniger als früher», erklärt Mazzoleni. Die hohe Mediendichte im Tessin definiert also weniger über was, sondern wie man über etwas spricht.