Ab Montag werden in der Schweiz die Massnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus gelockert. Epidemiologen warnen vor einer zweiten Welle. Was davon zu halten ist, und wie wir eine solche verhindern können, erklärt Richard Neher von der Uni Basel.
SRF News: Ist es ein Schreckgespenst oder kommt die zweite Welle sicher?
Richard Neher: Relativ sicher wissen wir vorerst, dass sich bislang nur ein Bruchteil der Schweizer Bevölkerung mit dem Virus infiziert hat. In Genf kam man letzte Woche auf rund fünf Prozent. Das bedeutet, dass 95 Prozent der Menschen – und in manchen Regionen der Schweiz vermutlich noch mehr – nach wie vor für das Virus empfänglich sind. Deswegen müssen wir davon ausgehen, dass es jederzeit zu einer zweiten Welle kommen kann, wenn die Übertragungsrate wieder zunimmt.
Die Dauer einer zweiten Welle wird davon abhängen, wie rigoros wir auf das Virus reagieren.
Wann kommt die zweite Welle?
Den Zeitpunkt kann man nicht sinnvoll und sicher voraussagen, weil er von vielen Faktoren abhängt.
Welchen?
Sicherlich auch davon, wie die Massnahmen, die wir implementiert haben, weitergeführt werden. Oder wie sie durch andere ersetzt werden können.
US-Epidemiologen warnen, dass die zweite Welle heftiger wird.
Es gibt keine Hinweise, dass eine zweite Welle per se weniger schlimm oder noch schlimmer sein wird. Viel wird davon abhängen, wie gut wir auf diese zweite Welle vorbereitet sind.
Wie lange könnte sie andauern?
Wir haben jetzt bei der ersten Welle gesehen, dass soziale Distanzierung sehr gut funktioniert. Wir haben es geschafft, seit Anfang März die Ausbreitungsgeschwindigkeit sehr zu reduzieren. Das heisst: Die Dauer einer zweiten Welle wird davon abhängen, wie rigoros wir auf das Virus reagieren.
Müssen wir uns darauf einstellen, dass es immer wieder Phasen mit strengeren Massnahmen gibt?
Ich hoffe, dass es nicht so weit kommt, sondern dass wir durch die behutsame und kontrollierte Öffnung lernen, was möglich ist. Denn ein solches Auf und Ab der Massnahmen wäre sehr ungünstig. Für die Wirtschaft – es würde die Planungssicherheit komplett ruinieren – aber auch psychologisch für die Menschen.
Es ist eine gewisse Lockdown-Müdigkeit zu spüren.
Momentan haben wir Massnahmen, die die gesamte Bevölkerung gleichermassen betreffen. Wir müssen von diesen pauschalen Massnahmen wegkommen zu solchen, die auf bestätigte Fälle und deren Kontakte fokussieren. Das wird nur funktionieren, wenn wir eine breit ausgelegte Kontaktverfolgungsstrategie und breites Testen implementieren können.
Ein «normal» im Sinne von «genau wie früher» wird es über kurz oder lang nicht geben.
Dann kann man dem Gros der Bevölkerung auch mehr Freiheiten geben – jeden neu auftretenden Fall aber rigoros verfolgen, und die Ausbreitung eindämmen. Und wenn wir es schaffen, bis zu einem möglichen Wiederaufflammen der Ansteckungsfälle solch ein System zu implementieren, kann ich mir vorstellen, dass man neue Ausbruchsherde und eine zweite Welle verhindern kann.
Dürfen wir uns bald auf den Normalzustand einstellen?
Ich fürchte nicht. Ein «normal» im Sinne von «genau wie früher» wird es über kurz oder lang nicht geben. Wir müssen eine Normalität etablieren, mit der wir durch unser Verhalten im Alltag eine Übertragung des Virus minimieren. Und wir müssen Wege finden, wie wir unser gesellschaftliches, wirtschaftliches und soziales Leben so gut wie möglich wieder aufnehmen können, ohne die Ausbreitung des Virus zu beschleunigen. Das wird nicht mit einer kompletten Rückkehr zum vorhergehenden Status gelingen. Aber ich denke, dass wir Wege finden werden, wie man die wichtigen Dinge wieder aufnehmen kann, ohne dem Virus Tür und Tor zu öffnen.
Das Interview führte Claudia Blangetti.