Aus der Ferne sieht man oft klarer. Von Belgrad und Wien aus beobachtet der Schweizer Politologe Daniel Bochsler die Schweizer Politik. Vor vier Jahren schrieben er und andere Autorinnen, die Schweizer Konkordanz sei tot.
Was haben wir denn heute, wenn die Konkordanz tot ist? «Die Ordnung, die wir in der Nachkriegszeit hatten, ist verschwunden. Wir haben einen schwachen Bundesrat, der seine Reformen im Parlament und vor dem Volk nicht mehr durchbringt», sagt Bochsler.
Wenn wir unter Konkordanz ein Element der Konsensregierung verstehen, die grosse Mehrheiten sucht, dann ist sie sehr lebendig.
«Die Konkordanz ist nicht tot», sagt hingegen Marc Bühlmann. Der Politologe lehrt und forscht an der Universität Bern. «Wenn wir unter Konkordanz ein Element der Konsensregierung verstehen, die grosse Mehrheiten sucht, dann ist sie sehr lebendig.»
Diese Lebendigkeit analysiert er in einem neuen Sammelband. Die Statistik zeige, dass 70 bis 80 Prozent der Vorlagen durchs Parlament kämen – und das mit grossen Mehrheiten.
Die Konkordanz beruht auf der Idee, immer nach Ausgleich und Kompromiss zu suchen und alle grossen politischen Kräfte im Land einzubinden. Dazu gehört seit 1959 die Zauberformel. Ein starker Bürgerblock, der das Land regierte, und die Sozialdemokraten, denen man ein paar Konzessionen zugestand.
Und genau dieser starke Bürgerblock ist laut Bochsler zerbrochen – nach dem Erstarken der SVP. «Die SVP hat sich völlig aus dem bürgerlichen Konsens wegbewegt. Das hat in den letzten drei Jahrzehnten dazu geführt, dass die Linke viel mehr zu sagen hat, weil die SVP eine unverlässige Partnerin ist.»
Je nach Thema paktiert die Mitte also mit Links oder mit Rechts. Oder die Pole spannen zusammen. Das sei gelebte Konkordanz, so Bühlmann: «Der Grundkonsens, eine Lösung zu finden, ist nach wie vor da.»
Ständerat als neues Machtzentrum
Die Lösungen kommen aber immer mehr aus dem Parlament und nicht mehr vom Bundesrat. Vor allem der Ständerat entpuppt sich als neues Machtzentrum, wo sich Ad-hoc-Koalitionen gerade mit Links bilden konnten.
Das sei genau Symptom der instabilen Situation, sagt Bochsler. «Das Regieren mit flexiblen Mehrheiten, ständig neu zusammengewürfelten Koalitionen und einem ständigen Hahnenkampf der Parteien – das ist fast unmöglich. Deswegen bringt man auch keine Reformen zustande.»
Die Zauberformel ist tot
Einen kleinen Konsens zwischen den beiden Politologen gibt es: Die alte arithmetische Zauberformel gehöre in die Geschichtsbücher. Sie tauge nicht mehr zur Regierungsbildung. Weil Koalitionen heute flexibel je nach politischem Thema gebildet würden, müssten sich bestimmte Themen und damit Parteien aber erst beweisen, bevor sie in den Bundesrat dürfen.
«Die Idee ist, dass der Bundesrat in seiner jetzigen Zusammensetzung nicht sofort auf neue Themen reagiert, sondern abwartet, welche Themen längerfristig wichtig sind», so Bühlmann. Sprich: die Grünen müssen sich noch gedulden und ihre Sitze bei den nächsten Wahlen verteidigen.
Das Regieren mit flexiblen Mehrheiten, ständig neu zusammengewürfelten Koalitionen und einem ständigen Hahnenkampf der Parteien – das ist fast unmöglich.
Bochsler hingegen wünscht sich mehr Klarheit von den Parteien: «Ich denke, das System würde besser funktionieren, wenn es auf einer stärkeren Absprache beruhen würde, was man von der Regierung erwartet, wie sie funktioniert und was die Bedingungen sind für einen Regierungseinsitz.»
Bedingungen für die Mitsprache im Bundesrat diskutieren nicht nur Politologen, sondern auch die Politik selbst. CVP-Präsident Gerhard Pfister will im neuen Jahr zum Konkordanz-Gipfel einladen und hat schon erste Gespräche mit den anderen Parteien geführt.