In Grossbritannien hat Viola Amherd die Eröffnungsrede am Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) gehalten. Ein solcher Auftritt vor rund 50 Staatschefs ist eher aussergewöhnlich. Doch als Gastgeberin des Bürgenstock-Gipfels ist Amherd ein gern gesehener Gast.
Nach einem halben Jahr als Bundespräsidentin kann man als Zwischenbilanz feststellen: Amherd hat die Schweiz zurück auf die Weltbühne gebracht.
Tiefpunkt Armeefinanzen
Amherds Präsidialjahr startete spektakulär mit der Ankündigung eines Friedensgipfels für die Ukraine. Doch wenige Wochen später folgte der bisherige Tiefpunkt: Die innenpolitischen Wirren um die Armeefinanzen holten die Bundespräsidentin ins Klein-Klein der helvetischen Tagespolitik zurück.
Über dem wochenlangen Streit um Zahlen und Begrifflichkeiten schwebte die viel grössere Frage: Ist die erste Verteidigungsministerin der Schweiz doch nicht ganz Herrin der Lage? Für Amherd war die Diskussion möglicherweise auch ein Weckruf. Seither kämpfe sie im Hintergrund stärker für eine raschere Aufstockung des Armeebudgets, ist im Parlament zu hören.
Höhepunkt Bürgenstock
Spätestens seit Viola Amherd zusammen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski auf dem Bürgenstock vor der Weltöffentlichkeit hundert Staatschefinnen und Staatschefs persönlich begrüsste, ist sie wieder in ihrer Rolle als Bundespräsidentin angekommen. Amherd und den Verantwortlichen gelang es, eine Konferenz ohne Zwischenfälle durchzuführen. Ob der Gipfel der Start zu einem Friedensprozess war oder eine Randnotiz in den Geschichtsbüchern sein wird, kann wohl erst in ein paar Jahren beurteilt werden. Persönliche Angriffe aus Russland nahm Amherd gelassen, sie perlten an ihr ab.
Bei den Unwettern im Wallis und im Tessin Anfang Juli konnte Viola Amherd dann in ihre wohl überzeugendste Rolle schlüpfen: In die der Landesmutter, die vor Ort Trost spendet, den Menschen zuhört und sie vor allem auch versteht. Die Armee war rasch zur Stelle, evakuierte und baute Brücken. Die leidgeplagte Bevölkerung wird es noch lange danken.
Kaum Neues zu Neutralität und Europa
Wenig Impulse konnte Amherd aber bisher bei ihren persönlichen Kernthemen setzen. Vor ihrem Präsidialjahr kündigte sie an, eine grosse Neutralitätsdebatte führen zu wollen. Doch seit die SVP dazu eine Initiative eingereicht hat, scheint das Thema festgefahren.
Amherd will auch die Beziehungen zur EU verbessern. Es kam zwar zu freundschaftlichen Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, aber die Verhandlungen für neue Verträge mit der EU sind noch nicht im Ziel.
Spekulationen um baldigen Rücktritt
Zur Halbzeit ihres Präsidialjahres kommt wieder die Frage auf: Ist dies Amherds letztes Jahr als Bundesrätin? Als Indiz für einen baldigen Rücktritt wird ihr Entscheid vom Dezember gewertet, das Departement nicht wechseln zu wollen.
Gute Gründe für einen Rücktritt nach dem Präsidialjahr gäbe es. Einen grösseren Höhepunkt als die Bürgenstock-Konferenz wird es kaum mehr geben. Im Dezember könnte Amherd auch noch die schnellere Aufstockung des Armeebudgets im Parlament durchbringen.
Zufrieden mit diesem Leistungsausweis wäre dann ein Abschied auf dem Höhepunkt der Karriere möglich. Doch die Walliserin gilt auch als hartnäckig. So würde es wenig erstaunen, wenn sich die 62-Jährige dazu entscheiden würde, doch noch etwas im Amt zu bleiben.