Über zehn Gäste, darunter die Mehrzahl mit Beeinträchtigungen, kamen anlässlich der ersten Behindertensession im Bundeshaus in einer «Arena Spezial» zu Wort. Nach der Debatte im Parlament ging die Diskussion am Abend im Studio 8 weiter. Hat die Behindertensession mehr als nur symbolischen Charakter? Wie barrierefrei ist die Schweiz? Und wo hapert es bei der Gleichstellung?
Im Live-Chat haben zwei Expertinnen und SRF Ihre Fragen beantwortet.
Chat-Protokoll
Ich störe mich immer am Wort behindert. Ich habe ein Handicap. Behindert werde ich dadurch oft durch die Umwelt Schade das man den wortwechsel nicht vollzieht
Felicitas Huggenberger: Heute war eine Zeitungsschlagzeile «Wir werden behindert». Sie haben absolut recht, dass insbesondere die Gesellschaft Menschen mit Behinderungen behindert.
Psychische Beeintächtigungen scheinen kein Thema zu sein, obschon sehr viele Renten aufgrund dieser Behinderungen ausgesprochen werden. Ich bin Betroffene der bipolaren Störung, kann reden und gehen, doch das Stigma ist seitens der Normalbevölkerung enorm. Wieso wird in diesem Bereich nicht mehr gemacht?
Felicitas Huggenberger: Psychische Beeinträchtigungen sind ein sehr wichtiges Thema. Heute an der Behindertensession ging es um die politische Teilhabe von allen Menschen, auch Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung. Es gab auch mehrere Parlamentarier und Parlamentarierinnen die auf dieses Thema aufmerksam gemacht haben. Es ist aber richtig, dass es schwierig ist, weil die psychische Beeinträchtigung nicht «sichtbar» ist.
Ich arbeite in einem Museum in Zürich. Seit einigen Jahren bieten wir in Zusammenarbeit mit Procap an der Langen Nacht der Zürcher Museen Ausstellungsführungen mit Übersetzung in Gebärdensprache an. Wir stellen jedoch fest, dass dieses Angebot auch nach mehreren Jahren immer noch nur ganz vereinzelt, häufig gar nicht genutzt wird. Mich würde interessieren, wo aus Ihrer, aus Sicht von Procap, resp. aus Sicht von Frau Dr. Binggeli, mögliche Gründe dafür liegen könnten und was Ihrer Ansicht nach dazu beitragen könnte, an einem solchen Anlass mehr Menschen mit Hörbeeinträchtigungen zu erreichen und so kulturelle Teilhabe zu fördern.
Irja Zuber: Es ist ein tolles Angebot! Ich hoffe, dass noch mehr Menschen darauf aufmerksam werden und dieses auch nutzen. Leider kann ich (mit meinem Fachgebiet) nicht sagen, weshalb die Führungen nicht so gut gebucht sind. Bleiben Sie dran !
Ich fände es besser wenn in den städtischen Regierung minimum eine körperliche Person sein müsste. Was denken Sie?
Felicitas Huggenberger: Da bin ich ganz ihrer Meinung. Die Politik wird erst umdenken und sich anpassen, wenn Politikerinnen und Politiker mit Behinderung sich in der täglichen politischen Arbeit einbringen und aufzeigen wo die Schwierigkeiten liegen. Die Behindertensession hat heute die politische Teilhabe gefordert. Es ist wichtig, dass wir Menschen mit Behinderungen die kandidieren, wählen damit sie ihre Erfahrungen in die Politik tragen können.
Es wäre für alle Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, wie auch für ihre Begleiter eine grosse Hilfe, wenn sie in alle Busse und Bahnen ohne Hindernisse einsteigen könnten.
Felicitas Huggenberger: Im Behindertengleichstellungsgesetz wurde eine Frist gesetzt bis Ende 2023 den Zugang zu Bus und Bahn hindernisfrei zu ermöglichen. Diese Frist wurde verschlafen. Leider wissen wir heute, dass Ende Jahr kaum alle Bahnen und Busse zugänglich sein werden. Dieser Missstand ist sehr ärgerlich, weil den Betrieben 20 Jahre Zeit gegeben wurde die Hindernisse abzubauen.
Es gibt ja drei Arbeitsbereiche. Freiwillige Arbeit Ehrenamtliche Arbeit Bezahlte Arbeit Menschen mit Behinderungen sind willkommen bei den ersten zwei Bereichen, aber so bald es um bezahlte Arbeit geht, Ist sogar eine alleinerziehende Mutter behindert, da sie nicht mehr Vollzeit oder mindestens 80% arbeiten kann, bekommt sie keine Ihrer Kompetenz entsprechender Arbeit und Entlöhnung. Vielleicht ändert ja der sogenannte Fachkräftemangel jetzt etwas an dieser Situation. Ps. Zum Thema Assistenzperson. Behinderte, welche unfallbedingt eine Behinderung erworben haben, haben kein Anrecht auf Assistenzdienste.
Irja Zuber: Ja, es ist so, dass Menschen, die nach einem Unfall eine Behinderung haben, keinen Assistenzbeitrag erhalten. Dieser Umstand sollte geändert werden.
Wiso darf ich nocht aus kirche sistretten will gerne das icj selber unerschreiben kann ich nöchte mei leben bestimmen kann meine eltern lassen mich nicht bestimmen ich erde jedes mal brvorundet warum darf ich nicht wählen oder beiständin nicht selber aiswällen wie alle anderen mein problem ist die lassen mich nicht wede immer bevormundtet sie trauen mich nicht
Felicitas Huggenberger: Sie haben sehr recht. Es ist nicht in Ordnung, dass vollverbeiständete Person nicht abstimmen und wählen können. Pro Infirmis unterstützt mit anderen Behindertenverbänden kantonale Bestrebungen das Wahlrecht für alle. Es gibt einzelne Kantone, wie der Kanton Genf, der das Stimm- und Wahlrecht für alle eingeführt hat. Im Nationalrat wurde auch ein Postulat zu diesem Thema eingereicht. Die Inklusion muss hier vorangetrieben werden.
Hallo.. Habe selbst , unfallbedingt , eine körperliche Behinderung..Meine rechte Hand ist motorisch eingeschränkt..Meine Frage..Gibt es Vereine und Treffen für körperlich Behinderte,um sich gegenseitig auszutauschen ?Ich lebe in St.Gallen..
Irja Zuber: Erkundigen Sie sich beispielsweise bei Procap St. Gallen-Appenzell.
Meine Frage wäre zum Thema Nebenjob. Mein Sohn(26) arbeitet im zweiten Arbeitsmarkt. Er hat eine Lernbehinderung. Er wohn in einer WG in einer Aussenwohngruppe Valida SG. Er arbeitet 80%. Seine Arbeit ist Gärtner und verdient 5.- pro Stunde.Er bekommt IV und Ergänzungsleistung. Es reicht gerade so zum Leben und das Wohnheim zu zahlen. Deshalb hat er sich fürs Wochenende einen Nebenjob gesucht. Ich bin ganz Stolz er hat sich das ganz alleine gesucht und gemeistert. Meine Frage ist jetzt. Ich muss sein Nebenjob bei der SVA melden und so aus Erfahrung weiss ich das ihm das ja wieder abgezogen wird von den Ergänzungsleistung. Somit hat er ja dann nicht mehr Geld zu Verfügung. Bin ich da richtig Informiert. Was kann ich machen das er dass verdiente Geld vom Nebenerwerb behalten kann? Gibt es eine Möglichkeit?
Irja Zuber: Ja, die neue Anstellung müssen Sie sowohl bei der IV wie auch bei der EL melden. Es stimmt, dass der Lohn bei den Ergänzungsleistugen eingerechnet wird. Ich empfehle Ihnen sich bei einer spezialisierten Beratungsstelle zu melden.
Ich leide seit dem jungen Erwachsenenalter an Depressionen. Dies hat/hatte auch Einfluss auf meine berufl. Ausbildung sowie meine berufliche Tätigkeit. Ich bin dort eingeschränkt, kann z.B. nur Teilzeit arbeiten. Hätte ich Anrecht auf IV-Unterstützung?
Irja Zuber: Guten Abend! Ich empfehle Ihnen sich bei einer spezialisierten Beratungsstelle zu melden, damit Sie sich über Ihre Ansprüche informieren können.
Menschen mit Behinderung, die man sieht, sind schon genug schlecht gestellt. Aber Menschen mit psychischer Beeinträchtigung fallen zum Teil aus dem System, da sie kein Röntgenbild und auch keine medizinisch belegte Diagnose vorweisen können. Irgendwelche Vertrauensärzte entscheiden aufgrund eines max. 1stündigen Gesprächs, ob diese Person mit psychischer Beeinträchtigung staatliche Hilfe bekommt. Dies kann viele Menschen in eine finanzielle Notlage bringen. Aber durch die Beeinträchtigung können sie sich auch nicht wehren. Auch diesen Menschen sollte man Gehör verschaffen. Ich bin selber davon betroffen und werde mich gerne in einer Sendung äussern und beteiligen. Danke.
SRF Arena: Herzlichen Dank für Ihren Input. Wir haben heute Abend zahlreiche Anrufe und Chat-Nachrichten erhalten, die diese Problematik betont haben. Wir haben sie aus der Publikumszentrale in die Diskussionrunde im Studio weitergegeben.
Wie kann ein/e gehörlose/rZuschauer/in der Sendung folgen, wenn die Dolmetscherin nur für die Leute im Studio übersetzt?
SRF Arena: Guten Tag, auf SRF Info wird die Sendung von einer Dolmetscherin, die Gebärdensprache spricht, begleitet. Freundliche Grüsse
ich würde noch gerne sagen es ist extrem schwer persönlichen Assistänz zu finden mit den kleinen lohn die uns gegeben wird um hilfe zu finden. es wäre schön wenn dah mehr Aufmerksamkeit gezeigt werden können.
Irja Zuber: Es ist ein wichtiger Punkt, den Sie ansprechen. Die Suche nach geeigneten Assistenten ist nicht einfach. Der Pflegenotstand macht es nun noch schwieriger als es schon war. Der Stundenansatz, der im Assistenzbeitrag vorgesehen ist, verstärkt die Not noch, wie Sie richtig schreiben.
Guten Abend. In der heutigen Zeit wird viel von Integration, Inklusion und Teilhabe gesprochen. Ich finde einfach schade das in der sogenannten 1.wirtschaft keine oder nur sehr wenige Stellen oder nischenplätze geschaffen werden.
Felicitas Huggenberger: Es ist sehr wichtig, dass Menschen mit Behinderungen im 1. Arbeitsmarkt arbeiten können. Hier müssen wir die Wirtschaft und die Arbeitgeber in die Pflicht nehmen. Mit einer Anpassung des Behindertengleichstellungsgesetztes in Bezug auf die Arbeit will der Bundesrat hier mehr Druck auf die Arbeitgebenden ausüben. Die Stiftung Profil unterstützt zudem Personen mit einer Behinderungen bei der Stellensuche im ersten Arbeitsmarkt.
Melde mich als Betroffene – nach Umschulung im 1. Arbeitsmarkt integriert, wegen hochgradiger Sehbehinderung und nur noch einem Auge darf ich keiner 100%-visueller Belastung mehr ausgesetzt werden. Ich arbeite 40% – und verdiene 25% – . Ich arbeite ohne Hilfsmittel, weil die vorhandenen Hilfsmittel mit den Programmen nicht kompatibel sind – es resultiert eine grössere Belastung meiner Augen. Mein Anliegen, ich werde nach heutigem Recht keine Pensionskassenrente erhalten. Ich finde, es muss einen Unterschied geben in der Handhabung, ob jemand selbstgewählt zugunsten mehr Freizeit nur 25% arbeitet oder ob jemand wie ich alles gibt, was noch geht und nur noch 25% leisten kann – ich bin 40% anwesend und gebe 40% Einsatz, nur der Output ist, auch wegen nicht kompatibler Hilfsmittel eingeschränkt. Das 2. Anliegen ist, die berufliche Vorsorge 3a – weil ich so wenig verdiene, darf ich nur 20% von meinem Nettolohn einzahlen – ein Betrag von etwas über 2000 Franken. Ich lebe sehr sparsam und könnte mehr in die Vorsorge einzahlen, aber ich darf es nicht – wieder ist es gesetzlich nicht erlaubt. Ich bekomme eine auf Geburtsgebrechen begründete volle Rente von 1628 Franken – ohne Ergänzungsleistungen, die kleine Hilflosenentschädigung dazu Nettolohn 933 Franken Mit dem heutigen Recht – und der dann ja noch tieferen AHV habe ich grosse Ängste, einst Sozialhilfeempfängerin zu werden und dann noch weniger bestimmen zu können, wie und wo ich wohne. Diese gesetzlichen Grundlagen sollten dringend behindertenfreundlicher angepasst werden – es ist eine grosse Diskriminierung, die behinderte Arbeitsnehmer, wenn sie nicht mehr die volle Leistung bringen können, hier erfahren
Irja Zuber: Die finanzielle Situation macht Ihnen Sorgen, das verstehe ich. Sie schreiben, dass Sie aktuell keine Ergänzungsleistungen beziehen. Sollte sich Ihre finanzielle Lage verschlechtern kann ihr Anspruch darauf geprüft werden. Auch, wenn Sie später eine AHV-Rente beziehen, haben Sie die Möglichkeit Ergänzungsleistungen anzumelden. Zur Sozialhilfe sollten Sie nicht müssen.
Bitte wie kann ich auch wenn ich noch möchte mich mit einer Gehörlosen Person verständigen wenn ich ja die Gebärdensprache nicht beherrsche dies ist mir schon öfters passiert sei das beim Einkaufen auf Wanderungen etc. und ich möchte doch nicht unbedingt noch in meinem alter die Gebärdensprache lernen.???
SRF Arena: Wichtig bei der Kommunikation mit Gehörlosen ist eine klare Aussprache, am besten in Hochdeutsch, Blickkontakt und versuchen, dass das Gesicht gut erkennbar ist und nicht im Schatten liegt. Mehr dazu auch hier: https://www.sgb-fss.ch/wp-content/uploads/2021/01/Flyer-Kommunikation-d_korr_2_neu.pdf
Zuerst sollten alle die viele oder grössere Gesundheitliche Probleme haben und nicht mehr 100% Arbeiten können auch eine IV-Rente erhalten und nicht abgeschoben werden und von der IV unrealistisch zu % Arbeitsfähigkeit beurteilt werden ohne Rente oder dann in die Sozialhilfe landen! Das ist so Unfair was bei den IV-GUTACHTEN alles läuft, dies sollte von der Politik unbedingt angegangen werde! Die IV rühmt sich dann wieder was für Einsparungen sie gemacht haben- welche aber durch sehr Unfaire Beurteilungen zustande kommen!
Irja Zuber: Sie sprechen grosse Schwierigkeiten im IV-Abklärungsverfahren an. Das Gesetz sieht vor, dass die Arbeitsfähigkeit genau abgeklärt werden muss. Leider ist die Festlegung der Arbeitsfähigkeit in der Praxis nicht so eindeutig und die Ärztinnen und Ärzte sind sich nicht einig. Im Gerichtsverfahren haben die Gutachten einen sehr hohes Gewicht und meist nicht mehr korrigiert werden. Immerhin hat die letzte Gesetzesrevision eine Verbesserung gebracht. Die Gutachten werden aufgezeichnet und somit besteht die Möglichkeit diese zu kontrollieren. Auch muss das Bundesamt für Sozialversicherungen eine Statistik führen. Wir werden weiterhin genau hinschauen!
frau Huggenberger. wie kommt es, dass Sie als Fachperson folgende Frage so äusserst unprofessionell und undifferenziert beantworten?: «Grundsätzlich verstehe ich nicht, dass in der Schweiz die Trottoirs und die Uebergänge zu den Strassen mit Granitpflästerungen versehen sein müssen. Wenn Sie mal als Para-oder Tetraplegiker-Rollstuhlfahrer unterwegs sind, merken Sie so jede Unebenheit und die Erschütterungen schaden dem noch nicht verschraubten Rücken. Eine ganz und gar unangenehme Angelegenheit. Hier könnte man auch viel Sparen, ist sicher teurer als nur mit Asphalt die Uebergänge zu gestalten. Warum regt sich hier nie Widerstand. Baulobby im NR und einfach weil man es immer so gemacht hat.» Ihre Antwort: Felicitas Huggenberger: Es ist richtig, dass sehr viele Strassen und Plätze nicht zugänglich sind. Die Sensibilisierung der Gemeinden, Kantone und des Bundes muss da verbessert werden. Persönlich gehe ich davon aus, dass es eher ist, weil es immer so gemacht wurde und die Sensibilisierung der kommunalen und kantonalen Bauverantwortlichen zu wenig vorhanden ist. Hier haben wir alle eine Verantwortung, die Behörden auf diese Hindernisse hinzuweisen. ich verstehe alle Personen die im Rollstuhl unterwegs sind, dass sie auf möglichst Über Gangs freie Absätze angewiesen sind.. jedoch gibt es nicht nur Menschen im Rollstuhl! Es gibt auch blinde und sehbehinderte Menschen die auf spürbare Abgrenzungen zu Strasse absolut angewiesen sind. Ich bitte ein bisschen mehr auf diverse Behinderungsarten einzugehen. Wenn wir schon in unseren Kreisen dafür kämpfen müssen… freundliche Grüsse
Felicitas Huggenberger: Es tut mir leid, dass sie meine Antwort undifferenziert finden. Das ist sie natürlich in der Anlage eines Chats, dass wir innert kurzer Zeit, die verschiedenen Facetten eines Problems beantworten müssen. Pro Infirmis berät Menschen mit sehr unterschiedlichen Behinderungen. Wir haben in verschiedenen Kantonen auch eine Bauberatung. Es ist richtig, dass die Bedürfnisse der Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen sehr unterschiedlich sind. Dies erleben wir in der Bauberatung immer wieder. Wie Sie schreiben, ist das Bedürfnis eines Rollstuhlfahrers oder einer Rollstuhlfahrerin, dass die Strassen und Plätze möglichst «glatt» sind. Sehbehinderten Personen dagegen brauchen klare Linien und sind deshalb sehr froh, wenn es Absätze gibt damit sie spüren wo das Trottoir endet. Vielleicht gerade weil die Bedürfnisse unterschiedlich sind, ist es für die Politik einfach hier nicht vorwärts zu machen. Hier müssen wir gemeinsam mit allen Behindertenorganisationen verstärkt lobbyieren. Gerne können Sie sich für eine differenziertere Antwort auch einmal bei Pro Infirmis melden.
Warum gibt es keine internationale Gebärdensprache? Sind nicht alle Gebärden überall weltweit zu vereinheitlichen? Danke sehr für die Antwort.
SRF Arena: Gebärdensprachen sind natürliche Sprachen, die in jedem Land eigenständig entstanden sind. In der Schweiz beispielsweise wurde die Gebärdensprache etwa durch die fünf Gehörlosenschulen geschaffen. Es gibt aber eine internationale Gebärdensprache namens «International Sign». Falls Sie Englisch sprechen, können Sie hier mehr dazu lesen: https://www.eud.eu/eud/position-papers/international-signs/
Warum überlassen Selbsthilfeorganisationen wie Procap den Lead in der Behindertenpolitik dem Spendenhilfswerk Pro Infirmis und übernehmen nicht selber den Lead? Ist das wirklich Selbstbestimmung?
Irja Zuber: Die Behindertenorganisationen arbeiten sehr eng zusammen in der Behindertenpolitik. Sowohl bei Procap, wie auch bei den anderen Organisationen sind Menschen mit einer Behinderung beschäftigt. Bei Procap gibt es ein Gremium aus Betroffenen, die bei sozialpolitischen Fragen mitreden. Die Inputs aus dieser Gruppe wie auch aus unserem Beratungsalltag werden aufgenommen und in die Politik weitergetragen. Schauen Sie auf unserer Homepage www.procap.ch, wenn Sie sich für unsere Aktivitäten in der Politik interessieren.
Meine Schwester leidet leider unter einer starken Sozialphobie und kämpft mit Panikattacken und grossem Stress im Alltag. Sie ist so stark beeinträchtigt, dass sie kein Selbstbestimmtes Leben führen kann. Inwiefern sieht die Politik, als auch die im Saal anwesenden Gäste handelsbedarf, was psychische Erkranungen angeht, die man nicht als solches erkennt? Sprich Personen die in totaler sozialen Isolation leben und keine Stimme haben, wie z.B. jemand der offensichtlich «behindert» ist.
Felicitas Huggenberger: Die Situation für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigungen ist effektiv sehr schwierig. Heute im Nationalratssaal hat der Vertreter ein Schild hochgehalten «unsichtbare Behinderung». Bei Pro Infirmis beraten wir heute über einen Drittel Personen mit einer psychischen Beeinträchtigung.
Gendert man in der Gebärdensprache?
SRF Arena: Ja, man unterscheidet zum Beispiel zwischen Arzt und Ärztin, in dem man jeweils die Gebärde für «Mann»/«Frau» hinzufügt.
Für mich gibt es zwei Bereiche, wo Handlungsbedarf besteht: Einerseits Mobilität – ich finde es eine unglaubliche Arroganz der Anbieter im öV, insbesondere der SBB, dass sie bei Um- und Neubauten von Bahnhöfen / Haltestellen und bei der Beschaffung von Roll-Material die Anliegen von Behinderten und älteren Menschen konsequent ignorieren. Statt dass in Planung und Ausschreibungen schon zu Beginn daran gedacht wird, beklagt man sich nachträglich, dass Anpassungen ja so teuer sind. Als wenn das Thema erst seit gestern auf dem Tisch wäre. Andererseits Wohnen – Wohnen in Institutionen mag für viele die einzig sinnvolle Lösung sein, aber: Heime sehe ich aus eigener Erfahrung aus privatem Umfeld eher als Behinderten-Aufbewahrungsstätte. Das hat damit zu tun, – dass im OR ein Abschnitt zu den Heimverträge fehlt, die eben nicht dem Mietrecht unterstellt sind sondern als einfachen Auftrag gelten; – dass die zuständige Aufsicht eher eine sich nicht zuständig fühlede Wegsicht ist; – dass die Situation von Behinderten im Rentenalter nicht gesichert ist (die IV ist nur bis zum AHV-Alter zuständig, nachher der jeweilige Kanton). Wir alle sind korrumpiert – Betroffene, Angehörige, die Gesellschaft – da es zu wenig Plätze hat, es nichts kosten darf und man daher nur Ja und Amen sagen kann. So lässt man die Heimleitungen und Trägerschaften schalten und walten wie es ihnen beliebt, weil sie uns ein Problem abnehmen. Ich bestreite nicht, dass es gut geführte Heime gibt. Aber das kann sich jederzeit ändern, wenn die Leitung oder Trägerschaft ändert. Dann gehört man plötzlich nicht mehr zur Zielgruppe und soll deshalb doch bitte gehen.
Irja Zuber: Sie haben einige wichtige Punkte aufgezählt, die wir in unserer täglichen Arbeit immer wieder hören. Die Behindertenverbände setzen sich für die Berücksichtigung der Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen im öffentlichen Verkehr ein. Sie haben vielleicht in den Medien davon gelesen. Ich teile Ihre Meinung, dass es besser ist, wenn die Verbände bereits zu beginnen mit einbezogen sind. Bei Problemen mit dem Heim rate ich Ihnen, dass Sie sich an die Ombudsstelle wenden, die es in einigen Kantonen gibt.
Ich wünsche mir für die Behinderten menschen das sie so gut es geht mit anderen menschen auf Augenhöhe sei es im Alltag zuhause oder sonst wo. Für mich sollten solche menschen ihre Aufmerksamkeit bekommen die sie verdient haben.
Felicitas Huggenberger: Herzlichen Dank für Ihre Rückmeldung. Es ist ganz wichtig, dass alle Menschen gleichberechtigt sind und nicht diskriminiert werden. Mit der heutigen Behindertensession und der Arena heute Abend machen wir einen grossen Schritt Richtung Diskussion auf Augenhöhe. Heute hat die Behindertensession eine Resolution verabschiedet, in der sie die politische Teilhabe und politische Rechte für alle fordert. 2023 ist ein Wahljahr, damit wir mit Menschen mit Behinderungen auf Augenhöhe austauschen können auch in der Politik.
Ich habe von einer Meningoenzephalitis eine schlaffe Tetraparese. Das sind jetzt fast 40 Jahre her. In dieser Zeit habe ich für meine neurologischen Schwierigkeiten keine einzige medizinische Unterstützung erhalten. Für mich gibt es keinen Case im Gesundheitswesen. Auch nicht im Inselspital. Dazu kommt, dass es schwierig ist mit meinen Folgeschäden überhaupt einen Hausarzt zu finden. Ich bezahle wie alle Bürger Krankenkasse, kann aber am Gesundheitswesen kaum teilhaben. Ändert sich in den nächsten Jahren für mich etwas?
Irja Zuber: Bei Ihnen kommen gleich mehrere Widrigkeiten zusammen. Leider kann ich zu den Problemen mit den Ärzten wenig sagen. Ich drücke Ihnen die Daumen, dass Sie die notwendige ärztliche Unterstützung finden. Es ist mir nicht bekannt, dass im Krankenversicherungsgesetz Änderungen geplant sind.
Grundsätzlich verstehe ich nicht, dass in der Schweiz die Trottoirs und die Uebergänge zu den Strassen mit Granitpflästerungen versehen sein müssen. Wenn Sie mal als Para-oder Tetraplegiker-Rollstuhlfahrer unterwegs sind, merken Sie so jede Unebenheit und die Erschütterungen schaden dem noch nicht verschraubten Rücken. Eine ganz und gar unangenehme Angelegenheit. Hier könnte man auch viel Sparen, ist sicher teurer als nur mit Asphalt die Uebergänge zu gestalten. Warum regt sich hier nie Widerstand. Baulobby im NR und einfach weil man es immer so gemacht hat.
Felicitas Huggenberger: Es ist richtig, dass sehr viele Strassen und Plätze nicht zugänglich sind. Die Sensibilisierung der Gemeinden, Kantone und des Bundes muss da verbessert werden. Persönlich gehe ich davon aus, dass es eher ist, weil es immer so gemacht wurde und die Sensibilisierung der kommunalen und kantonalen Bauverantwortlichen zu wenig vorhanden ist. Hier haben wir alle eine Verantwortung, die Behörden auf diese Hindernisse hinzuweisen.
Laut BSV kam es in den Jahren 2021 und 2022 zu durchschnitlich 5 IV Anmeldungen pro Tag (!) wegen Covid 19 und dessen Folgen (z.B. Long Covid). Es gab bisher lediglich 6% Rentenzusprachen, obwohl inzwischen bekannt sein sollte, wie schwer behindernd Long Covid und das in ca. 40% der Betroffnen ausgelöste ME/CFS sein können. Das BSV meint, es müssen dank «guter medizinischer Betreuung» nur so wenige Renten gesprochen werden und schliesst daraus, dass die meisten Menschen ja wieder erwerbsfähig werden. Hier wird einfach angenommen, dass die Rentensprechung meistens den Bedürfnissen der Betroffenen gerecht wird, was definitiv nicht der Fall ist bei Long Covid und ME/CFS (siehe z.B. https://sgme.ch/situation-der-betroffenen/). Was ist mit all den Leuten, denen eine Rente verweigert wird, weil behauptet wird, ihre neuro-immunologische Erkranknun (WHO!) seit «durch Willensanstrengung überwindbar»? Was geschieht mit all denen, die zu krank sind um zu arbeiten und dann in der Sozialhilfe landen? Es werden in der Schweiz nicht mal offizielle Zahlen erhoben zu diesen Krankheiten! Der Bundesrat meint, die Fachgesellschaften seien hierfür zuständig, aber diese gibt es gar nicht! Das Problem wird (gekonnt?) ignoriert. Wer ist zuständig und kann uns 10'000enden Betroffenen in der Schweiz aus dieser desolaten Lage helfen? Wer kümmert sich um Aufklärungskampagnen bei Fachpersonal (die diese Krankheiten meistens nicht einmal kennen!) und der breiten Bevölkerung? Das BAG? Der Bundesrat? Gesundheitsminister Berset? Die kantonalen Gesundheitsdirektor:innen? Niemand?
Irja Zuber: Sie fragen, wer sich um die Long Covid-Aufklärungskampagnen kümmert. Diese Frage kann ich nicht beantworten. Wir von der Pro Infirmis und Procap sind für die Beratung in Sozialversicherungsfragen zuständig und unterstützen, wenn es um den Rentenanspruch geht. Aktuell haben wir noch wenige Beratungsfälle mit einer Long-Covid-Diagnose. Melden Sie sich bei einer Beratungsstelle in Ihrer Region.
Die Schweiz ist 2014 der UNO Brk beigetreten. Nun hat sie vor einem Jahr sehr schlechte Noten von eben dieser bekommen, weil sie sich, praktisch auf der ganzen Linie, mangelhaft der Rechte behinderter Menschen widmet. Mich wundert wie es dazu kommen kann. Oft hört man das seinsehr teuer und man müsse sparen. Mit dem Bekenntnis zur BRK verpflichtet sich die Schweiz zu den Rechten Behinderter Menschen – das sind Rechte, nicht wohlfühlextras. Welche Entscheidungsträger nehmen sich auf welcher rechtlichen Grundlage die Macht diese Rechte durch Sparübungen zu verhindern? Meiner Meinung nach müssen Rechte durchgesetzt werden, das sind nicht finanzpolitische Fragen wie zum Beispiel die ob wir den öV weiter ausbauen sollen. Klage ich mein Recht gemäss BRK nämlich ein, werde ich recht erhalten und es würde durchgesetzt, da gibt es kein Schlupfloch welches sich durch politisches Sparen rechtfertigen liesse.
Felicitas Huggenberger: Herzlichen Dank für Ihre Ausführungen. Es ist effektiv sehr bedauerlich, dass die Schweiz seit der Ratifizierung der UNO BRK 2014 kaum Gesetze angepasst wurden. Aus diesem Grund hat die Schweiz vom UNO Behindertenausschuss auch ein schlechtes Zeugnis erhalten. Eine Schwierigkeit ist, dass die Rechte der UNO Behindertenrechtskonvention nicht direkt einklagbar sind. Dazu müssten wir das Zusatzprotokoll ratifizieren. Mit der heutigen Behindertensession haben Menschen mit Behinderungen ein Zeichen gesetzt. Ich bin überzeugt, dass nur der gemeinsame Druck dazu führen wird, dass die Rechte von Menschen mit Behinderungen aus der UNO-BRK verbessert und gesetzlich verankert werden.
Ich lese, dass 22% der Schweizer behindert sind. Wie setzen sich diese 22% zusammen? Im einzelnen: Wieviel Leute sind blind, wieviel gehörlos, wieviel sind auf dem Rollstuhl angewiesen, wieviel haben Trisomie-21 etc. etc. Danke und Gruss
Felicitas Huggenberger: Das Bundesamt für Statistik hat diese Zahl erhoben. In dieser Zahl sind unterschiedliche Behinderungsarten enthalten und auch unterschiedliche Schweregrade der Beeinträchtigung. Die Zahl weist aber nicht im Detail aus wieviele Personen davon, welche Beeinträchtigung haben. Aus diesem Grund können wir Ihnen diese konkrete Frage nicht im Detail beantworten.
Wir sind im Moment auf Wohnungssuche in Biel. Unsere Tochter ist im Rollstuhl. Wir finden für unser Budget praktisch keine Wohnung, denn die meisten für uns in Frage kommenden Wohnungen sind ohne Lift. Ich habe recherchiert, bei IV müsste man ein Gesuch machen, es müsste zweckmässig sein. Und kein Vermieter ist verpflichtet einen Umbau vorzunehmen. Haben Sie uns Tipps? Barrierefreie Wohnungen sind für Betroffene nicht wirklich bezahlbar. Finde auch politisch müsste da was gehen. Baugenossenschaften haben auch meistens keine Wohnungen, die sind zwar zahlbar aber nicht zugänglich. Vielen Dank
Irja Zuber: Es ist wirklich schwierig eine passende und günstige Wohnung zu finden. Sie finden Tipps und auch eine Vermittlungsplattform auf procap.ch. Die IV übernimmt einfache und zweckmässige Anpassungen in den Wohnungen. Wie sie richtig schreiben, braucht es die Zustimmung des Vermieters, der Vermieterin. Ich wünsche Ihnen viel Glück bei der weiteren Wohnungssuche!